Welche internationale Ordnung?

Welche OrdnungDas Völkerrecht hat seinen Ursprung in den Westfälischen Friedensverträgen, in denen das Prinzip der staatlichen Souveränität festgelegt wurde: Jede Nation ist der anderen gleich, und keine darf sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einmischen. Lange galt es als wirksames Gesetzeswerk, um trotz Rivalitäten zwischen den Staaten für dauerhaften Frieden und internationale Stabilität zu sorgen.

Dann aber kamen die Verteidigungsbündnisse … und die Anglo­amerikaner. Als Siegermächte führten sie die regelbasierte Ordnung ein – Recht war nicht mehr das verbriefte Recht der Verträge, sondern das von den Siegern durchgesetzte Gewohnheitsrecht. Eine Mahnung.

Am 4. November 2023 sprach der Politanalyst Thierry Meyssan in Magdeburg auf der von der Zeitschrift Compact
organisierten Konferenz „Freundschaft mit Russland“ über die Geschichte des Völkerrechts. Hier die Rede im Wortlaut.

Wir haben die Verbrechen der NATO gesehen, aber warum sollten wir unsere Freundschaft mit Russland bekräftigen? Besteht nicht die Gefahr, dass es sich morgen so verhält wie die NATO heute? Werden wir nicht eine Form der Sklaverei durch eine andere ersetzen?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf meine Erfahrungen als Berater von fünf Staatsoberhäuptern zurückgreifen. Überall haben mir russische Diplomaten gesagt: Sie sind auf dem Holzweg –Sie verpflichten sich, hier ein Feuer zu löschen, während anderswo das nächste ausgebrochen ist. Das Problem liegt tiefer und umfassender.

Deshalb möchte ich Ihnen den Unterschied zwischen einer regelbasierten und einer völkerrechtlichen Weltordnung beschreiben. Es ist keine geradlinige Geschichte, sondern ein Kampf zwischen zwei Welt­anschauungen; es ist ein Kampf, den wir fortsetzen müssen.

Im 17. Jahrhundert wurde in den Westfälischen Friedensverträgen das Prinzip der staatlichen Souveränität festgelegt. Jeder ist dem anderen gleich, und niemand darf sich in die inneren Angelegenheiten des anderen einmischen. Es sind diese Verträge, die jahrhundertelang sowohl die Beziehungen zwischen den heutigen Bundesländern als auch die zwischen den europäischen Staaten geregelt haben. Sie wurden 1815 auf dem Wiener Kongress bestätigt, als Napoleon I. besiegt wurde.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg berief Zar Nikolaus II. zwei internationale Friedenskonferenzen (1899 und 1907) in Den Haag ein, um „die wirksamsten Mittel zu finden, um allen Völkern die Vorteile eines wirklichen und dauerhaften Friedens zu sichern“. Er hat sie mit Papst Benedikt XV. auf der Grundlage des kanonischen Rechts und nicht der des Rechts des Stärkeren vorbereitet. 27 Staaten unterzeichneten nach zweimonatigen Beratungen das endgültige Werk. Der Vorsitzende der [republikanischen] französischen Radikalen Partei, Léon Bourgeois, legte seine Überlegungen1 über die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten und über das Interesse vor, das sie haben, sich trotz ihrer Rivalitäten zu einigen.

Auf Betreiben von Léon Bourgeois schuf die Konferenz einen Internationalen Schiedsgerichtshof, um Streitigkeiten mit rechtlichen Mitteln und nicht mit Krieg beizulegen. Laut Bourgeois werden Staaten der Abrüstung nur zustimmen, wenn sie andere Sicherheitsgarantien haben.

Der endgültige Text führte den Begriff der „Pflicht der Staaten, Krieg zu vermeiden“ ein … durch ein Schiedsverfahren.

Auf Anregung eines der Minister des Zaren, Friedrich Fromhold Martens, einigte sich die Konferenz darauf, dass während eines bewaffneten Konflikts die Bevölkerung und die Kriegsparteien unter dem Schutz der Prinzipien bleiben sollten, die sich aus „den zwischen zivilisierten Nationen etablierten Gepflogenheiten, den Gesetzen der Menschlichkeit und den Geboten des öffentlichen Gewissens“ ergeben. Kurz gesagt, die Unterzeichner verpflichteten sich, sich nicht mehr wie Barbaren zu verhalten.

Dieses System funktioniert nur zwischen zivilisierten Staaten, die ihre Unterschrift respektieren und ihrem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Es scheiterte jedoch 1914, weil die Staaten ihre Souveränität verloren hatten, da sie Verteidigungsverträge geschlossen hatten, die sie verpflichteten, unter bestimmten Umständen, die sie selbst nicht beurteilen konnten, automatisch in den Krieg einzutreten.

Léon Bourgeois’ Ideen machten Fortschritte, stießen aber auf Widerstand, auch bei seinem Rivalen, Georges Clemenceau, in der Radikalen Partei. Der glaubte nicht, dass die Meinung der Öffentlichkeit Kriege verhindern könne. Auch die Angelsachsen, der Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, und der britische Premierminister David Lloyd George glaubten ihm nicht. Die drei Männer ersetzten das Völkerrecht, das am Ende des Ersten Weltkriegs noch in den Kinderschuhen steckte, durch die Macht der Sieger. Sie teilten die Welt und die Überreste des österreichisch-ungarischen, deutschen und osmanischen Reiches unter sich auf. Sie gaben Deutschland die Schuld an den Massakern und leugneten ihre eigenen. Sie zwangen Deutschland zur Entwaffnung, ohne Garantien. Um das Auftauchen eines Rivalen des Britischen Empire in Europa zu verhindern, begannen die Angelsachsen, Deutschland gegen die UdSSR auszuspielen und erreichten das Schweigen Frankreichs, indem sie ihm versicherten, dass es dann das besiegte Zweite Reich ausplündern könne. In gewisser Weise haben sie, wie es der erste Bundespräsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, sagte, die Voraussetzungen für die Entwicklung des Nationalsozialismus geschaffen. Wie sie es untereinander vereinbart hatten, gestalteten die drei Männer die Welt nach ihrem eigenen Bild um (Wilsons 14 Punkte, das Sykes-Picot-Abkommen, die Balfour-Deklaration). Sie schufen die jüdische Heimat Palästina, sezierten Afrika und Asien und versuchten, die Türkei auf ihr Minimum zu reduzieren. Sie organisierten alle aktuellen Unruhen im Nahen Osten.

Dennoch wurde auf der Grundlage der Ideen des verstorbenen Nikolaus II. und Léon Bourgeois nach dem Ersten Weltkrieg der Völkerbund gegründet – ohne Beteiligung der Vereinigten Staaten, die damit offiziell jegliche Idee des Völkerrechts ablehnten. Doch auch der Völkerbund scheiterte. Nicht weil die Vereinigten Staaten sich geweigert hatten, daran teilzunehmen, wie man so schön sagt. Das war ihr gutes Recht. Aber vor allem, weil der Völkerbund nicht fähig war, die strikte Gleichheit zwischen den Staaten wiederherzustellen, da das Vereinigte Königreich sich weigerte, kolonisierte Völker als gleichwertig zu betrachten. Zweitens, weil er keine gemeinsame Armee hatte. Und schließlich, weil die Nazis ihre Gegner massakrierten, die Öffentlichkeit in Deutschland zerstörten, die Zusagen Berlins verletzten und nicht zögerten, sich wie Barbaren zu benehmen.

Bereits ab der Atlantik-Charta 1942 setzten sich der neue US-Präsident Franklin Roosevelt und der neue britische Premierminister Winston Churchill das gemeinsame Ziel, nach Kriegsende eine Welt­regierung zu errichten. Die Angelsachsen, die sich einbildeten, die Welt beherrschen zu können, waren sich dennoch untereinander nicht einig, wie sie das tun sollten. Washington wollte nicht, dass London sich in seine Angelegenheiten in Lateinamerika einmischte, während London nicht die Absicht hatte, die Hegemonie des Imperiums, über dem „die Sonne nie untergeht“, zu teilen. Die Angelsachsen unterzeichneten während des Krieges eine Reihe von Verträgen mit den alliierten Regierungen, einschließlich der Exilregierungen, die sie in London beherbergten.

Übrigens gelang es den Angelsachsen nicht, das Dritte Reich zu besiegen – es waren die Sowjets, die es stürzten und Berlin einnahmen. Josef Stalin, der erste Sekretär der KPdSU, war gegen die Idee einer Weltregierung, und zwar einer angelsächsischen. Er wollte nur eine Organisation, die zukünftige Konflikte verhindern würde. Wie dem auch sei, es waren die russischen Konzeptionen, die das System hervorgebracht haben: die der Charta der Vereinten Nationen auf der Konferenz von San Francisco.

Im Sinn der Haager Konferenzen sind alle UN-Mitgliedsstaaten gleichberechtigt. Die Organisation verfügt über ein internes Gericht, den Internationalen Gerichtshof, der für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern zuständig ist. Basierend auf den bisherigen Erfahrungen haben die fünf Siegermächte jedoch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat mit Vetorecht. Da zwischen ihnen kein Vertrauen herrschte (die Angelsachsen hatten nämlich geplant, mit den verbliebenen deutschen Truppen den Krieg gegen die UdSSR fortzusetzen) und da es noch unklar war, wie sich die Generalversammlung verhalten würde, wollten die verschiedenen Sieger sicherstellen, dass sich die UNO nicht gegen sie wendete (die Vereinigten Staaten hatten entsetzliche Kriegsverbrechen begangen, indem sie zwei Atombomben auf Zivilisten abwarfen, während Japan sich auf die Kapitulation vor den Sowjets vorbereitete). Die Großmächte verstanden aber das Veto absolut nicht auf die gleiche Art und Weise. Für die einen war es ein Recht, die Entscheidungen der anderen zu tadeln, für die anderen war es die Pflicht, einstimmige Entscheidungen der Sieger zu treffen.

Aber schon von Anfang an haben die Angelsachsen beim Spiel nicht mitgespielt: Ein israelischer Staat proklamierte sich selbst (14. Mai 1948), bevor seine Grenzen vereinbart waren. Dann wurde der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Graf Folke Bernadotte, der die Schaffung eines palästinensischen Staates überwachen sollte, von jüdischen Suprematisten unter dem Kommando von Yitzhak Shamir ermordet. Dann wurde im Zusammenhang mit der Beendigung des chinesischen Bürgerkriegs der Sitz im Sicherheitsrat an Chiang Kai-sheks Kuomintang und nicht an Peking vergeben. Die Angelsachsen proklamierten die Unabhängigkeit ihrer koreanischen Besatzungszone unter dem Namen „Republik Korea“ (15. August 1948), gründeten die NATO (4. April 1949) und proklamierten dann die Unabhängigkeit ihrer deutschen Besatzungszone unter dem Namen „Bundesrepublik Deutschland“ (23. Mai 1949).

In der Annahme, dass man sie getäuscht hatte, schlug die UdSSR die Tür zu (die Politik des „leeren Sitzes“). Der Georgier Josef Stalin hatte irrtümlich geglaubt, das Veto wäre kein Misstrauensrecht, sondern eine Bedingung der Einstimmigkeit der Sieger. Er dachte, er würde die Organisation blockieren, indem er sie boykottierte.

Die Angelsachsen interpretierten den Text der von ihnen entworfenen Charta und nutzten die Abwesenheit der Sowjets, um ihren Soldaten „Blauhelme“ auf den Kopf zu setzen und im „Namen der internationalen Gemeinschaft“ (sic) einen Krieg gegen die Nordkoreaner zu führen (25. Juni 1950). Schließlich kehrten die Sowjets am 1. August 1950, nach sechseinhalb Monaten Abwesenheit, in die UNO zurück.

Kommentare

02. April 2024, 15:34 Uhr, permalink

Drusius

Wenn in den Kriegen des alten Fritz noch drei Zivilisten auf einen Soldaten in den Auseinandersetzungen starben und jetzt das Verhältnis zwischen 90 bis 200 Zivilisten auf einen Soldaten angekommen ist, dann stellt sich die Frage nach dem Wert des Papieres auf dem die Abkommen stehen.

05. April 2024, 08:26 Uhr, permalink

Drusius

Vermutlich hat sich die Zielrichtung der Kriege von der Vernichtung der feindlichen Truppen auf die Vernichtung der Bevölkerung verändert, könnte man aus diesem Fakt schlußfolgern, wenn man wollte.

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