Was will Putin?: Wie durch Desinformation ein großer Konflikt in Europa provoziert werden soll

Putin buntStephan Berndt
Kopp Verlag
288 Seiten
ISBN: 978-3-864452-57-4
€ 19,95

Zwielichtig, halbseiden, irgendwie nicht ganz koscher. Ein Mann mit Pokerface, der für seine Interessen über Leichen geht. Als Erstsemester mit Zeit-Abo hatte ich mir dieses Putin-Bild einst selbst einimpfen lassen. Mittlerweile nehme ich die Zeit nicht mehr so ernst, ebenso wenig wie andere Printprodukte der transatlantischen Kaderschmieden. Zu diesen gehört auch der Spiegel, dessen regelmäßige Putin-Cover („Stoppt Putin“, „Putin greift an“, usw.) sicher auch an Ihnen nicht vorbeigegangen sind. Kommt Ihnen diese Hetze auch so abstoßend und billig vor? Tja, eigentlich eine gesunde Reaktion – oder ist man damit schon Putinversteher? So ein lustiges Label bekommt man heute schließlich ratzfatz angepappt, wo man der Meinungsmehrheit mit individuellen Ansichten auf den Senkel geht. Ist ja auch verständlich, denn wer mag es schon, wenn an der eigenen Rechthaberposition gekratzt und man obendrein mit abseitigen Informationen belästigt wird.

In solchen Fällen ist es immer gut, wenn sich ein akribischer Arbeiter wie Stephan Berndt findet, der den ganzen Nebel aus Information, Gegeninformation und verdrehten Wahrnehmungen ein wenig lüftet. Mit seinem Buch leistet Berndt mehr, als nur die titelgebende Frage zu beantworten. Denn die ist ehrlich gesagt ziemlich schnell erledigt: Schon auf dem Buchumschlag wird angemerkt, dass das ganze Rätselraten um Putin nicht viel mehr ist als eine aufgeblasene Shownummer. Der Mann hat bereits ziemlich oft und ziemlich genau gesagt, was er denkt und will. Hierzulande unter anderem im Bundestag und auf Deutsch. Doch damals wie heute hört man nicht so richtig hin und Berndt holt mit seinem Buch im Grunde die Recherche nach, die eigentlich Aufgabe unserer Leitmedien gewesen wäre.

Schon Berndts Einführung ist klar und folgerichtig strukturiert, beleuchtet sie doch die titelgebende Frage aus diversen Blickwinkeln. Berndt erklärt nicht nur, wer sich alles fragt, was Putin will und warum, sondern auch, ob und warum diese Frage überhaupt relevant ist.

Um die Antwort kurz zusammenzufassen, ohne zu viel vorwegzunehmen: Putin will ein unabhängiges, nationalstaatliches und starkes Russland in einer multipolaren Weltordnung souveräner Staaten. Dies sieht er in wachsendem Maße bedroht, ist doch die NATO mittlerweile an die russische Haustür vorgerückt, während die USA nach unipolarer Dominanz streben (wie in der Kündigung des ABM-Vertrags zum Ausdruck kam). Putin glaubt, das US-geführte Bündnis wolle Russland „balkanisieren“, zurückdrängen und kleinhalten. Er vertritt viele Sichtweisen und Argumente, die im Westen als „verschwörungstheoretischer Common Sense“ gelten. Das geht bis hin zur angestrebten Neuen Weltordnung der superreichen globalen Elite. Wer nun glaubt, Putin vertrete damit wirre Außenseiterpositionen, liegt völlig falsch. In vielen Punkten deckt sich seine Meinung nicht nur mit vielen Politikerkollegen, sondern auch mit den Ansichten der Mehrheit des russischen Volks.

Mit diesem Punkt deckt Berndt auf, dass es vor allem das im Westen gepflegte Herunterspielen bzw. komplette Ignorieren bestimmter russischer Denkweisen und Befindlichkeiten ist, das für ernsthafte Kriegsgefahr sorgt. Das Resultat ist paradox, denn die westlichen Medienkonsumenten unterschätzen damit die Gefahr, die von der früher oder später zu erwartenden Reaktion Putins auf die fortgesetzte US-NATO-Außenpolitik ausgeht. Berndt sieht hier allerdings Kalkül am Werk und ist der Ansicht, die hiesigen MedienkonsumentensollenPutin nicht ernst nehmen, da sie sonst (aus Furcht vor Krieg) Zugeständnisse an Russland fordern könnten. Damit wird ein brisanter Aspekt der Manipulation aufgedeckt, der besser früher als später einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt werden sollte.

Dass „unsere“ gesellschaftlichen Eliten es absichtlich in Kauf nehmen sollen, derart mit dem Feuer zu spielen, mag für herkömmlich geschulte Leser unglaubwürdig klingen. Doch Berndt bastelt keine Verschwörungstheorien, sondern untermauert fast jeden Gedankengang und jede These mit Zitaten und Quellen – und das zumeist von angesehenen Leuten aus der offiziellen Nomenklatura diesseits und jenseits des Atlantiks. Namen wie Egon Bahr oder Helmut Schmidt fallen da, Ex-NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark kommt zu Wort oder George Friedman, Chef der als „Schatten-CIA“ bekannten Denkfabrik Stratfor. Besonders Friedman wird ausgiebig zitiert, denn er sprach im März 2015 auf dem Chicago Council völlig unverblümt über eine seit 100 Jahren geltende Doktrin der USA, nach der es darum geht, stets einen Keil zwischen Deutschland und Russland zu treiben. Nicht, dass das mögliche Zusammenwachsen von Ressourcen, Arbeitskraft, Wissen und Ingenieurskunst noch zu einer Bedrohung der US-amerikanischen Poleposition wird. Warum Friedman so offen sprach, wird im Buch erklärt. Hier sei nur angemerkt: Beim Lesen wird ziemlich klar, dass es mit der Diagnose Verfolgungswahn für Putin und die Russen nicht getan ist.

Berndts roter Faden führt ihn schließlich zu einem zentralen Stichwort: Geostrategie. Geostrategie steckt hinter vielen Zündeleien, die auf dem Globus flackern, und die Globalstrategen scheinen vor nichts Halt zu machen, solange es ihnen nicht selbst an den Kragen geht. Obwohl sie den Verlauf der Weltgeschichte wohl mehr als nur beeinflusst, ist Geostrategie laut Berndt insbesondere im Denken der Deutschen so gut wie ausgestorben. Das macht er vor allem an Talkshow-Beispielen deutlich, in denen Gäste, die darüber sprechen und berühmte Vertreter wie Brzezinski oder Kissinger zitieren wollen, oft mit Nachdruck unterbrochen und schließlich abgewürgt werden. Berndt sieht darin einen der Gründe dafür, dass die deutsche Öffentlichkeit so wenig Verständnis von Zusammenhängen im Weltgeschehen hat und so oft vor „Rätseln“ steht. Die eigentlich gar keine sind – man muss nur, wie im Fall Putin und Russland, genau hinsehen.

Ich möchte Berndt allerdings widersprechen, wenn er schreibt, es gäbe in Deutschland niemanden, der in dieser Sache wirklich Durchblick habe. Es gibt jemanden: Christoph Hörstel. Allerdings ist der scheinbar wirklich der Einzige und wird wohl deshalb ununterbrochen herumgereicht. Doch es wäre Erbsenzählerei, diese kleine Lücke ernsthaft zu bemängeln. Ebenso das manchmal schwankende Sprachniveau oder ein paar arg gedehnte Gedankensprünge. Der Gesamteindruck bleibt gut, denn Berndt durchdringt viele gedankliche Ecken, wirft viele Fragen auf und puzzelt das Ganze dennoch zu einem stimmigen Bild zusammen. Alles in allem eine spannende, informative, wenn auch nicht immer angenehme Lektüre. Denn wer die Augen nicht verschließen will, muss erkennen: Die reale Gefahr eines großen Kriegs besteht mehr als nur latent und ist derzeit womöglich sogar größer, als sie es zu Zeiten des kalten Kriegs war.

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