Aber dieser Umstand führt auch dazu, dass es uns an größeren Idealen und damit dem Antrieb fehlt, Veränderungen und Fortschritt zu bewirken. Wie Bregman es ausdrückt: „Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.“
Um seinen Lesern auf die Sprünge zu helfen, beschäftigt Bregman sich mit verschiedenen Kernaspekten und Streitfragen unserer Gesellschaft: dem Kapitalismus, der Überwindung der Armut, den Herausforderungen der Digitalisierung, der Frage offener Grenzen, der 15-Stunden-Woche und dem bedingungslosen Grundeinkommen. Dabei verweist er auf Vordenker wie die Ökonomen John Stuart Mill, John Maynard Keynes und Milton Friedman, die die theoretische Grundlage für heutige Überlegungen lieferten, und untermauert seine Thesen mit aktuellen Studien und Beispielen aus dem realen Leben.
Die Bilder unserer Zukunft, die Bregman malt, sind idealistisch, nahezu radikal und irritierend simpel, aber in meinem Kopf schwang auf der Suche nach Kontraargumenten trotz Bregmans Bezügen zu bestehenden Theorien und Studien stets die leise Frage „Ja, aber …?“ mit. Wie Bregman betont, geht es jedoch nicht darum, ad hoc unsere gesamte Gesellschaftsordnung umzukrempeln, sondern überhaupt zuzulassen, über die Grenzen unseres Systems hinauszudenken: Wollen wir unser Leben weiter an der Länge unserer Arbeitszeit und der Höhe unseres Einkommens messen? Wie werden wir mit der zusätzlichen Freizeit umgehen, wenn sich durch Digitalisierung, 15-Stunden-Woche und BGE unsere Arbeitszeit drastisch verkürzt? Und können offene Grenzen dazu beitragen, die Armut in der Dritten Welt nachhaltig zu beenden? Allein, dass über diese Themen heutzutage diskutiert wird, wäre vor einigen Jahrzehnten, ja, selbst vor wenigen Jahren noch kaum denkbar gewesen – für Bregman ein erster Schritt hin zur Umsetzung. „Vergessen Sie nicht: Auch die Menschen, die für die Abschaffung der Sklaverei, für das Frauenwahlrecht und für die Homosexuellenehe eintraten, wurden anfangs für verrückt erklärt. Sie waren Verrückte, bis die Geschichte ihnen recht gab.“
Wenngleich ich selbst bezüglich einiger Utopien Bregmans Zweifel hege und mir nicht sicher bin, ob der Titel „Utopien für Utopisten“ nicht angebrachter wäre, so tut es doch gut, zur Abwechslung einmal ein Buch zu lesen, das nicht den unausweichlichen Untergang der Menschheit heraufbeschwört. Ein Buch, das zeigt, dass früher eben doch nicht alles besser war und dass wir es selbst in der Hand haben, unsere Zukunft positiv zu gestalten und an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, der Digitalisierung und des alltäglichen Lebens zu wachsen.
Rutger Bregman
Rowohlt Taschenbuch
302 Seiten
ISBN: 978-3-499-63300-3
€ 10,–
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