Archäologische Spekulationen
Könnten diese Schädel echte archäologische Fundstücke sein? Wie Morton und Thomas darlegen, standen Bobans Artefakte gerade zu der Zeit zum Verkauf, als Teotihuacàn nördlich von Mexiko-Stadt ausgegraben wurde. Teotihuacàn ist eine der wichtigsten Stätten auf dem amerikanischen Kontinent, mit Pyramiden und einer Anlage, die den Pyramiden von Gizeh gleichkommt.
Bekanntermaßen besuchte Boban die Ausgrabungsstätten, und zwar in Begleitung von Leopold Batres, dem „Aufseher über die Monumente“. Blake behauptete interessanterweise, dass auch Batres „nicht nur ein Schwindler, sondern auch ein Betrüger“ sei. Selbst wenn diese Anschuldigungen wahr sein sollten, hatte Boban den Schädel dann vielleicht aus Teotihuacàn? Wenn dem so ist, läge die Schuld nicht bei Batres. In jenen Tagen endete die eine Hälfte der Fundstücke, die die Ausgräber zu Tage förderten, auf dem Schwarzmarkt, während die andere Hälfte Teil der „archäologischen Aufzeichnungen“ wurde. Sogar der große Howard Carter wurde bekanntlich während der Erkundung des Grabes von Tutenchamun, der größten archäologischen Entdeckung des 20. Jahrhunderts, ein Opfer dieses Vorgehens.
So oder so, die Annahme, dass die Schädel echte archäologische Schätze sind, ist logischer – und besser dokumentiert – als die Spekulationen über eine theoretische Verbindung zu Deutschland. Dennoch ist es eine Tatsache, dass keiner der Schädel während einer archäologischen Ausgrabung gefunden wurde – abgesehen von dem sogenannten Mitchell-Hedges-Kristallschädel, der nach seinem Entdecker, dem Abenteurer F. A. (Mike) Mitchell-Hedges, benannt wurde, wenn wir der „offiziellen“ Version des Fundes Glauben schenken wollen. Der Schädel ist der bei weitem schönste, detaillierteste und aufwändigste und besteht aus zwei Teilen, nämlich dem Schädel selbst und einem abnehmbaren Kieferknochen, mit dem man den Schädel „sprechen“ lassen kann. Der berühmte Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke verwendete ein Bild dieses Schädels für seine beliebte Fernsehserie „Arthur C. Clarke’s Mysterious World“.
Nach der offiziellen Version wurde der Schädel 1924 in den Ruinen von Lubaantun in Belize (damals Britisch-Honduras) während einer archäologischen Besichtigung der Stätte gefunden, obwohl diese Behauptung umstritten ist (siehe dazu den Artikel über den Mitchell-Hedges-Schädel in der nächsten NEXUS-Ausgabe). Die Existenz dieses „Schädels der Verdammnis“, wie Mitchell-Hedges ihn selbst nannte, ist erst ab 1931 dokumentiert.
In seiner Autobiographie „Danger, My Ally“ (1954) behauptet Mitchell-Hedges, dass „der ‚Schädel der Verdammnis‘ aus reinem Bergkristall besteht. Nach den Aussagen von Fachleuten muss eine Generation nach der anderen jeden Tag ihres Lebens daran gearbeitet haben, um in 150 Jahren mit Sand diesen perfekten Schädel aus einem riesigen Bergkristall zu schmirgeln.“ Er fährt fort:
„Er ist mindestens 3.600 Jahre alt und wurde der Legende nach vom Hohepriester der Maya zur Durchführung esoterischer Kulthandlungen benutzt. Angeblich folgte der Tod auf dem Fuße, wenn er ihn mit Hilfe des Schädels beschwor. Er wurde als Verkörperung des Bösen beschrieben.“
Als ein Mann, der „die Gefahr“ zum „Verbündeten“ hatte, versuchte er offensichtlich, die Leser mit der Macht dieses Objekts zu erschrecken.
Mitchell-Hedges brachte den Kristallschädel mit den Maya 1600 v. Chr. in Verbindung – als es die Maya noch gar nicht gab. In Anbetracht von Mitchell-Hedges‘ Bestrebungen, Beweise für die Existenz von Atlantis zu finden, behaupteten viele Leute, dass der Schädel somit ein Überbleibsel dieser noch älteren Zivilisation sei. Es lässt sich leicht erraten, was die Skeptiker daraus gemacht haben.
Kristalline Hinterlassenschaften
Heute gibt es drei Haupttheorien darüber, was die Kristallschädel eigentlich sind und woher sie kommen. Eine besagt, dass sie außerirdische Hinterlassenschaften sind; eine andere geht davon aus, dass sie Überbleibsel einer untergegangenen Zivilisation sind (womit oft Atlantis gemeint ist). Beide sind besonders in der New-Age-Szene beliebt. Für Skeptiker sind die Kristallschädel „offensichtlich“ deutsche Erzeugnisse aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings könnte eine vierte Theorie der Wahrheit deutlich näher kommen.
Das Problematische an den Kristallschädeln ist, dass sie aus Kristall bestehen. Quarzkristall altert nicht, korrodiert nicht, erodiert nicht, verfällt nicht und verändert sich im Lauf der Zeit überhaupt nicht. So ein Schädel könnte mehrere hundert, wenn nicht gar tausend Jahre alt sein und trotzdem so aussehen, als sei er erst gestern angefertigt worden – und umgekehrt. Daher mussten andere Datierungsmethoden gefunden werden, und so wurden die Hinweise darauf, dass die Schädel mit einem rotierenden Werkzeug poliert wurden, zum Hauptbestimmungsmerkmal dafür, ob sie moderne bzw. postkolumbische oder „echte“ archäologische Artefakte sind.
Wie oben bereits erwähnt, verachtete Michael Coe die Laborarchäologen, die der Echtheit der Kristallschädel widersprachen. Und das zu Recht, wie der Schädel im Besitz der Mexikanerin Norma Redo – zumindest nach Ansicht einiger Leute – beweist, der für sein großes Kreuz auf der Schädeldecke bekannt ist. Der Schädel zeigt ähnliche „Spuren“ eines rotierenden Werkzeugs, aber nach seiner Analyse stellte der Archäologe Dr. Andrew Rankin fest, dass der Schädel aus demselben Kristall besteht wie der Kristallkelch aus dem Grab Nr. 7 in Monte Albàn, der ein unumstrittener archäologischer Fund ist. Darüber hinaus gilt der Stempel mit der Jahreszahl 1571 auf dem Kreuz als echt, sodass mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass der Schädel ein europäisches Erzeugnis aus dem 19. Jahrhundert ist. Zusammen bestätigen diese Beweise Michael Coes Behauptungen, dass die Maya offenbar durchaus Kristall bearbeiten konnten … und deshalb tatsächlich die Schöpfer der Kristallschädel sein könnten.
In der Tat wären die Maya nicht die einzige alte Hochkultur, die Kristall bearbeiten konnte. Robert Temples Buch „Die Kristall-Sonne. Eine verlorengegangene Technologie des Alterums wiederentdeckt“ (2000) wurde folgendermaßen beworben:
„Nach 33 Jahren weltweiter Forschungen, in Museen von Stockholm bis Shanghai, von Athen bis Kairo, und nach der Lektüre von tausenden Büchern in verschiedenen Sprachen, rekonstruierte Robert Temple eine längst vergessene Geschichte: Die Geschichte der Lichttechnologie in antiken Kulturen. Sie führt uns mindestens bis ins Jahr 2600 v. Chr. ins altägyptische Königreich zurück und quer durch die abendländische Antike.“
Temples Suche begann, als er mit Arthur C. Clarke über den Mitchell-Hedges-Schädel sprach. Daraufhin sprach ihn der britische Wissenschaftshistoriker Derek Price, der vor allem durch seine Arbeit über den Mechanismus von Antikythera (einem weiteren außergewöhnlichen archäologischen Fundstück, das erst seit kurzem auch von der Wissenschaft beachtet wird) bekannt wurde, auf die Layard-Linse an, die ein weiteres Beispiel dafür ist, dass unsere Vorfahren schon mit Kristall gearbeitet haben.
Mitte des 19. Jahrhunderts grub der englische Archäologe Sir John Layard die Überreste von Babylon und Ninive aus. Im Jahr 1850, während der Ausgrabung des Thronsaals des assyrischen Königs Sargon II., fand er eine Linse. Ihr Alter wird auf 721 bis 705 v. Chr. geschätzt, und auch sie ist im Britischen Museum zu sehen. Sie ist die wahrscheinlich erste plano-konvexe Linse überhaupt.
Temple schreibt auf seiner Website:
„[…] diese mittlerweile gesprungene und stark beschädigte Linse aus Bergkristall war ursprünglich eine perfekte konvexe Linse mit einer flachen (‚planen‘) Basis, die auf eine bestimmte Art und Weise geschliffen wurde, die Optiker als ‚toroidal‘ bezeichnen – eine Technik, über die man nach allgemeiner Ansicht erst ab etwa 1900 verfügte. Mit dieser Methode können Linsen geschliffen werden, die individuelle Fälle von Astigmatismus korrigieren. Es ist durchaus möglich, dass man heute jemanden auf der Straße trifft, dessen Astigmatismus durch die Layard-Linse perfekt korrigiert wird […] Es ist absolut außergewöhnlich, dass es eine Technologie wie diese schon im 8. Jh. v. Chr. gab. Und kein einziger Assyriologe hat bisher von der Veröffentlichung meiner Arbeit über dieses wichtige Objekt Notiz genommen, abgesehen von dem einen, der mich in erster Linie dazu ermutigt hat. Er war neugierig, zu welchen Ergebnissen ich kommen würde. Mir scheint, dass die Assyriologen es vorziehen, mein Buch nicht zu ‚bemerken‘.“
Warum? Vor allem deshalb, weil das wissenschaftliche Establishment in Bezug auf die Kristallschädel glaubt – und genau das tut es nun einmal –, dass erst „wir“ seit dem 19. Jahrhundert solche Dinge tun können.
Allerdings leugnen heutzutage die Archäologen nicht mehr grundsätzlich, dass es in der Antike Linsen gab, wie die Untersuchung von George Sines und Yannis A. Sakellarakis (American Journal of Archeology, Vol. 91, Nr. 2, April 1987) zeigt, die darüber berichten, wie „[…] zwei kürzlich in den Idäanischen Höhlen gefundene Linsen aus Bergkristall von außergewöhnlich guter optischer Qualität zu dieser Untersuchung von anderen Linsen führten. Alles deutet darauf hin, dass Linsen mehrere tausend Jahre lang überall im Nahen Osten und rund um das Mittelmeer benutzt wurden.“ Sie fügen hinzu:
„Es ist bekannt, dass im antiken Griechenland Linsen als Brenngläser verwendet wurden, genauso wie Lupen, um Siegelabdrücke verifizieren zu können.“
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