Einige verblendete Forscher sehen allerdings genau das Gegenteil der Wahrheit, wenn sie Patienten medizinisch behandeln. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Das ist zwar sehr bequem für sie und ihre Fachrichtung, hat aber mit der Wahrheit nichts zu tun.
Die systematischen Übersichtsarbeiten des Wissenschaftler- und Ärztenetzwerks Cochrane Collaboration haben aufgezeigt, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Depression oder von Neuroleptika bei Schizophrenie durchaus zweifelhaft ist. Manche Medikamente können bei manchen Patienten manchmal helfen, vor allem in der akuten Phase einer Erkrankung, wenn der Patient so von Panikanfällen oder Halluzinationen gequält ist, dass es hilfreich sein kann, diese Gefühle mit einem Beruhigungsmittel abzuschwächen. Werden die Ärzte in ihrer Anwendung von Psychopharmaka aber nicht professioneller – das heißt, verschreiben sie sie nicht bald seltener und in geringeren Dosierungen und haben stets einen Plan zum Ausschleichen parat –, dann wären die Patienten eindeutig besser dran, wenn alle diese Medikamente vom Markt verschwänden.
Was bedeutet es, psychisch krank zu sein?
Wenn wir uns die Medizin einmal generell ansehen, verstehen wir vielleicht auch die diagnostischen Probleme in der Psychiatrie besser. Wir diagnostizieren bei Patienten mit ähnlichen Symptomen eine namentlich bekannte Krankheit, damit wir uns einfacher darüber verständigen, weiterforschen, Krankheiten behandeln oder ihr Auftreten verhindern können. Diese diagnostische Kennzeichnung funktioniert dann am besten, wenn wir die Ursache bestimmter Krankheiten kennen. So ist es zum Beispiel sehr nützlich, wenn man weiß, dass eine bestimmte Art der Lungenentzündung durch Pneumokokken hervorgerufen wird, weil wir sie dann mit Penicillin heilen können. Daher unterteilen wir die verschiedenen Varianten der Lungenentzündung nach ihrer Ätiologie und bezeichnen sie dann eventuell auch so – also etwa als Pneumokokken-Lungenentzündung.
Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme von Borrelia hermsii, dem Verursacher des durch Zecken übertragenen Rückfallfiebers, bei der Interaktion mit roten Blutkörperchen (Quelle: US NIAID)
In der Medizin gibt es viele unterschiedliche Arten der Diagnose. Manche davon sind vorläufig und beschreiben nur ein Symptom wie etwa Magenschmerzen. Aus dieser vorläufigen kann dann auch die endgültige Diagnose werden, wenn keine Ursache für die Schmerzen gefunden wird; doch die endgültige Diagnose kann auch auf Magengeschwür lauten. Manche Diagnosen beschreiben Syndrome, die aus mehreren Symptomen, Anzeichen und paraklinischen Hinweisen (z. B. Blut- oder radiologischen Befunden) bestehen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die rheumatoide Arthritis. Wir kennen die Ursache für diese Erkrankung nicht, vermuten aber eine Infektion dahinter. Im Jahr 1975 trat im US-Bundesstaat Connecticut ein ganzer Arthritis-Fallkomplex auf, bei dem sich später herausstellte, dass die Krankheit von Borrelien – durch Zecken übertragenen Bakterien – hervorgerufen wurde. Bevor die Ätiologie geklärt war, handelte es sich um eine Syndromdiagnose. Die einzelnen Patienten konnten zusätzlich zu ihrer Arthritis unter Umständen an Ausschlägen, Kopfschmerz, Fieber sowie anderen Symptomen und Anzeichen leiden. Wir können diese Erkrankung mit Penicillin und anderen Antibiotika heilen – im Gegensatz zur rheumatoiden Arthritis, die mit relativ gefährlichen Medikamenten behandelt wird. Die meisten Patienten erhalten dabei nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) gegen die Schmerzen, und manche sterben auch daran, weil diese Medikamente als Nebenwirkung Magengeschwüre und Herzinfarkte hervorrufen können. Krankheitsmodifizierende Wirkstoffe sind ebenfalls gefährlich; daraus folgt, dass die medikamentöse Behandlung ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die betroffenen Patienten eine geringere Lebenserwartung haben als andere Menschen.
Das Verständnisniveau ist bei psychiatrischen Erkrankungen im Vergleich zum Wissen über Krankheiten im Rest der Medizin ziemlich gering – und die Behandlungen sind um einiges gesundheitsschädlicher und tödlicher als etwa die Medikamente, die gegen rheumatoide Arthritis verschrieben werden. Wir wissen einfach nicht viel über die Ursachen psychischer Erkrankungen, daher ist die diagnostische Unsicherheit um einiges größer als in anderen medizinischen Fachrichtungen.
Zur Syndromdiagnose bei rheumatoider Arthritis gehört es, den Rheumafaktor im Blut zu bestimmen; dabei handelt es sich um einen Antikörper, der gegen das eigene Gewebe aktiv wird. Für psychische Erkrankungen gibt es keine solchen Blutuntersuchungen; bisher konnte auch nicht nachgewiesen werden, dass sich die Gehirne von Patienten, die an den verbreitetsten geistigen Störungen leiden, in irgendwelcher Hinsicht von denen gesunder Menschen unterscheiden.
Ein Krankheitsgefühl oder das Leiden an einer bestimmten Krankheit lässt sich nur schwer definieren. Wir meinen nicht immer dasselbe, wenn wir über diese Themen reden. Viele Psychiater sprechen lieber von einer psychischen Störung statt von einer psychischen Erkrankung oder Geisteskrankheit, weil psychiatrische Diagnosen in erster Linie soziale Konstrukte sind. Die Belegschaft der Mayo Clinic im amerikanischen Minnesota spricht jedoch von einer Erkrankung. Da wir aber nicht wissen, was eine Geisteskrankheit eigentlich ist, definieren wir sie als eine Kombination von Symptomen, die das Leben des Patienten beeinträchtigen.
Psychiatrische Diagnosen werden nach Gesprächen mit dem Patienten erstellt. Die derzeit verwendete Checklistenmethode ähnelt aber ein bisschen zu sehr dem beliebten Zeitungsrätsel „Finde die fünf Fehler“. So heißt es zum Beispiel, dass eine Person, die mindestens fünf von neun möglichen Symptomen aufweist, an einer Depression leidet.
Wenn man lange genug nachschaut, wird man solche „Fehler“ wahrscheinlich bei den meisten Menschen“ aufspüren. Intuition und Erfahrung eines Arztes können ihm binnen Sekunden verraten, welches Problem ein bestimmter Patient hat. Dadurch besteht aber ein erhebliches Risiko, dass der Arzt von diesem Augenblick an nur noch Suggestivfragen stellt und damit auf die erforderliche Anzahl von Fehlerpunkten kommt, aus denen dann eine Fehldiagnose wird.
Statt zu versuchen, Patienten zu verstehen, ist die Psychiatrie zur reinen Übung im Ausfüllen von Checklisten verkommen, die problemlos auch eine Sekretärin oder der Patient selbst absolvieren könnte. Psychiater haben mir erzählt, dass manche Allgemeinmediziner diese Angelegenheit auch genau so handhaben und danach ihre Diagnose stellen.
Eine Studie, die 1993 von der Denkfabrik RAND Corporation in den USA erstellt wurde, erbrachte die folgende Erkenntnis:
„Mehr als die Hälfte aller Ärzte stellten nach einem Gespräch über Depression, das drei Minuten oder weniger dauerte, ihre Rezepte aus.“
In anderen Studien wurde gezeigt, dass Ärzte relativ oft nicht die offiziellen Checklisten verwenden, sondern sich eher auf ihre Ahnungen verlassen. Dadurch erhöht sich das Risiko von Fehldiagnosen und Überdiagnosen noch mehr. Im DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, vierte Auflage; dt.: „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) sind zwar 374 Diagnosen angeführt, doch nur die Hälfte aller in Behandlung befindlichen Patienten erfüllten die Diagnosekriterien für eine bestimmte Erkrankung.
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