September 2009. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln die Porphyrfelsen vor dem Fischerdorf Portoscuso im Südwesten Sardiniens. Ich bin mit ein paar Freunden hier. Die Eltern unserer Gastgeberin besitzen ein Haus in dem Dorf, das einst – wie viele der hiesigen Küstensiedlungen – von der mattanza lebte, dem traditionellen Thunfischfang. Die Ruine der alten Fangstation Su Pranu neben dem Hafen zeugt noch davon. Wenn die Fische im späten Frühjahr zum Laichen gen Osten zogen, legten die Fischer ihre tonnara aus, miteinander verbundene Kammernetze, die das Einfangen ganzer Schwärme ermöglichten. Die eingenetzten Fische wurden an die Bootswand gezogen und mit der Keule erschlagen, während die Fischer ihr über Generationen tradiertes Lied sangen. Heute wird die mattanza kaum noch praktiziert – der Großteil der Fangquote der dramatisch dezimierten Thunfischbestände wird den industriellen Flotten zugesprochen, der Fang in Netzkammern lohnt kaum noch.1
Tradition ist so ein Wort auf Sardinien. Den Thunfischfang haben vor rund 2.600 Jahren die Punier vorangetrieben; Westphönizier, die kulturelle Hochburgen an den Küsten errichteten. Doch im Verhältnis zur gesamten Besiedlungsgeschichte der Insel ist das ein reichlich später Einstieg in ihre dramatische und teils mysteriöse Ethnohistorie.
Vor- und Frühzeit: Geschichte neu geschrieben
Januar 2024. Gemeinsam mit meiner Verlobten und unserer Hündin schiffe ich im Wohnmobil mit der Autofähre im Hafen von Olbia ein. Es ist mein dritter Besuch auf Sardinien – aber der erste seit 14 Jahren und einer, der meine persönliche Beziehung zur Insel neu schreiben soll.
Rund 50 Kilometer östlich von Olbia wurde im Jahr 1979 auch etwas neu geschrieben, nämlich Sardiniens Ur- und Frühgeschichte: Damals entdeckten Archäologen im Schwemmland des Riu Altana nahe des Landwirtschaftsstädtchens Perfugas paläolithische Steinwerkzeuge. Sie sollen rund 120.000 bis 180.000 Jahre alt sein und von Frühmenschen stammen, die wie wir vom europäischen Festland aus über das Mittelmeer auf Sardinien landeten. Nur eben ohne Autofähre. Wann genau sie eintrafen, lässt sich noch nicht sicher sagen – die kühnsten Schätzungen zeigen auf 600.000 v. u. Z., wobei die frühesten gesichert hominiden Knochenfunde auf etwa 150.000 v. u. Z. datiert wurden.2,3 Ob ein im Jahr 2001 in einer Höhle gefundenes, 250.000 bis 750.000 Jahre altes Knochenglied zur Hand eines Proto-Neandertalers gehört oder tierischer Herkunft ist, bleibt strittig.4 Klar ist aber, dass die vormals verbreitete Lehrmeinung, die Insel sei erst vor 6.000 bis 8.000 Jahren besiedelt worden, getrost über Bord geschmissen werden kann. Menschheitsgeschichtlich betrachtet ist Sardinien alter Boden, und die noch junge Forschung ist durchzogen von dunklen Flecken, die es zu ergründen gilt.
Schlaraffen-Eiland im Mittelmeer
Ziemlich sicher ist auch: Mit der einsetzenden Jungsteinzeit ab ca. 6.000 v. u. Z. lebten mehrere Stammesgemeinschaften auf der üppigen Insel, deren Ressourcenreichtum „weit über die Funktionalität hinaus“ geht, wie der Schriftsteller und Sardinienliebhaber Ernst Jünger noch in den 1950er-Jahren attestierte.5 Wie muss die Insel erst vor Jahrtausenden ausgesehen haben, lange vor dem zivilisatorischen Einwirken großer Menschengruppen!
Kommentar schreiben