Was aber soll eine „spirituelle Dissoziation“ sein? Psychologisch wird unter Dissoziation das Auseinanderfallen von normalerweise zusammenhängenden psychischen Funktionen verstanden – die dissoziative Störung gilt als eine psychische Krankheit. Dilas will hingegen eine konstruktive Dissoziation, bei der man kontrolliert seinen Gedankenfluss unterbricht, um sich „veränderten und erhöhten Bewusstseinszuständen zuzuwenden“.
Seinen Ansatz verdeutlicht er in mehreren Exkursen, unter anderem zum Philosophen Edmund Husserl, der in seiner Phänomenologie dafür plädierte, sich in der Wissenschaft von all seinen Assoziationen, Vorurteilen, Erwartungen und Hoffnungen frei zu machen. Sieh erst einmal ohne Konzepte genau hin! Dieser phänomenologische Impuls wurde von seinem Schüler Heidegger aufgenommen, der dann Wahrheit als „Unverborgenheit“ verstand. Unsere Vorstellungen von Wirklichkeit und Welt verhindern demnach geradezu einen Blick auf die Wahrheit.
Dissoziation kann also eine Art spiritueller Superkraft sein – die Psychologie sieht derlei Zustände aber eher als superkrank. Dilas erläutert die Klassifizierungen der Psychologie und stellt die Möglichkeiten eines konstruktiven Umgangs mit der Dissoziation dagegen. Das sollte Therapeuten aufhorchen lassen und spirituelle Sucher neugierig machen.
„Allein die Dissoziation reduziert die Realität vorübergehend auf die tatsächliche Gegenwart“, schreibt Dilas. Dann macht er Ausflüge in die Quantenphysik, speziell zu Hugh Everetts Theorie alternativer Realitäten, analysiert verschiedene Arten von Zeitreisen und beschreibt, was mit Dissoziation alles möglich ist – ihm zufolge (fast) alles. Das Ganze ist gut durchdacht, flüssig und lesbar geschrieben und wird anhand eigener Erfahrungen aus seinen „Reisen“ verdeutlicht. Ab und zu fließen auch Geschichten von Menschen ein, die seine Seminare besucht oder sich einfach mit ihren Problemen an ihn gewandt haben.
Selbstbeobachtung ist für Dilas ein guter Einstieg in die Dissoziation: Man beobachtet sich selbst in seinem Tun und Denken, statt sich damit wie gewöhnlich zu identifizieren. Der Verstand schnattert aber immer wieder dazwischen, der Körper meldet sich mit Juckreizen oder Zittern oder es gibt unverhoffte Störungen wie Telefonklingeln – ganz so schnell entlässt einen die aus einem permanenten Gedankenstrom gewebte Matrix des Verstandes nicht in den Urlaub. Wer es allerdings durch Üben schafft, so Dilas, der kann sogar die Realität wechseln.
Dilas unterscheidet fünf Stufen der Dissoziation: Die ersten sind vergleichsweise einfach zu erreichen, in den letzten beiden nimmt man eine eiförmige Membran, die Matrixhülle, um sich herum wahr. Deren Innenseite soll der erfahrene Psychonaut als Projektionsfläche nutzen können, seinen eigenen Lebensfilm zu steuern. Ab ca. drei Minuten Nichtdenken stellt sich die Dissoziation mit dem Umschalten auf den Astralkörper ein, ab fünf Minuten wird es mit der Wahrnehmung alternativer Realitäten und Zeitepochen spannend und ab zehn Minuten wird es zum Abenteuer. Übungen, um diesen Zustand zu erreichen, liefert er natürlich auch – aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass einiges an Selbstdisziplin nötig ist.
Wer schon einmal den Gedanken hatte, dass die Tür zur Wahrheit nicht nach außen, sondern nach innen aufgeht, und wer den Ausgang aus der Höhle Platons sucht, der könnte hier einen Wegweiser finden. Psychisch instabilen Menschen würde ich allerdings abraten.
Jonathan Dilas
Selbstständig publiziert
335 Seiten
ISBN: 979-8-685435-01-9
€ 20,18 / 9,95 (Kindle)
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