Mit solchen Zahlen und Fakten wartet Sven Böttcher in seinem Buch „Rette sich, wer kann!“ schon auf den ersten paar Seiten auf. „Ja, aber …“ werden Sie jetzt vielleicht sagen. „Der persönliche Leidensdruck! Die Schmerzen, die ich Tag für Tag nach dem Aufstehen verspüre! Und die Fälle, von denen ich gehört habe, bei denen die Vorsorgeuntersuchung, der PSA-Test mit schnell nachfolgender Prostataoperation oder der Gang zum x-ten Spezialisten geholfen haben!“
Stimmt alles.
Derlei Einwände kann und will der Autor auch gar nicht widerlegen. Er gibt nur zu bedenken: Das Gesundheitssystem lebt davon, dass Sie krank sind oder sich krank fühlen. Laut Definition der WHO – „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ – sind sowieso nur fünf Prozent der Weltbevölkerung gesund. Der Rest begibt sich – zumindest in unseren Breiten – in die Fänge einer Krankheitsmaschine, die allein in Deutschland jährlich ca. 350 Milliarden Euro umsetzt und etwa jeden sechsten Arbeitsplatz stellt. Da werden beim leisesten Verdacht zahlreiche Folgeuntersuchungen verschrieben, Eingriffe angeordnet, halswehkranke Grundschüler mit Antibiotika vollgestopft und Leitlinien befolgt, die Ärzten wie Patienten gar keine andere Alternativen zu den teuren Behandlungen lassen. Das alles zahlen ja die Kassen. Nur wenn ein Herr Doktor dem notorisch Leidenden vorschlägt, seinen Lebensstil zu ändern, stellt sich plötzlich eine unheilbare Taubheit ein.
Der Schriftsteller Sven Böttcher erkrankte 2005 an Multipler Sklerose und wurde mit der schulmedizinischen Lehrmeinung beschieden, dass seine Krankheit unheilbar, progressiv und im Endeffekt tödlich sei. Zuerst folgte er den Anweisungen der Neurologen, kam so dem Tod tatsächlich näher – und wandte sich gerade noch rechtzeitig von der Ärzteschaft ab, um auf eigene Faust gesund zu werden. Heute führt Böttcher ein fast normales Leben (mit einigen Einschränkungen), betreibt ein Informationsportal für MS-Betroffene und hat ein erfolgreiches Buch über die Erkrankung und den offiziellen und alternativen Umgang damit geschrieben. Bei seinen fortwährenden Recherchen ist er natürlich auch auf die umfassende Malaise des Gesundheits- bzw. Krankheitssystems gestoßen und beschreibt diese in „Rette sich, wer kann!“ höchst eindrücklich.
In einem lockeren, für manche eventuell zu lockeren Erzählstil, beschreibt Böttcher im ersten Buchteil mit dem Übertitel „Unheil“ die einzelnen und nahezu perfekt ineinandergreifenden Elemente der Gesundheitsindustrie. Dabei belegt er – ob am Beispiel MS oder mit anderen Fakten –, dass der Patient nur Futter für diese Maschine ist und gar nicht gesund werden soll, weil eben nur der kranke Mensch Geld bringt. Man denke nur an den angeblich so starken Anstieg der sogenannten Autoimmunerkrankungen, an die willkürliche Herabsetzung von Grenzwerten (Blutdruck, Cholesterin usw.) oder die vielen sündteuren Therapien, deren Nutzen mehr als fragwürdig ist. Gewinnmaximierung heißt das Motto … und Sven Böttcher skizziert im zweiten Teil seines Werks („Heil“) ein paar Wege, diesem System zu entkommen und selbstverantwortlich gesund zu werden. Oder eben zu akzeptieren, dass Wehwehchen und Krankheiten zum Leben gehören, dass nicht immer alles fun sein kann und dass es nicht gegen alles eine Pille gibt, die einen wieder normal weiterfunktionieren lässt.
Selbst wenn man nicht mit allen Schlussfolgerungen des Autors übereinstimmt und manche seiner Selbstbehandlungsmethoden (wie Meditation) für zu esoterisch hält, sollte man dieses Buch lesen und auch die vielen Fußnoten studieren. Und wenn man danach nur noch 17 statt 18 Mal im Jahr zum Arzt geht, ist schon etwas gewonnen.
Sven Böttcher
Westend
236 Seiten
ISBN: 978-3-86489-220-2
€ 18,-
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