„Wenn wir genügend scheinbar ‚anekdotische‘ oder ‚seltsame‘ Erfahrungen aus verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Orten sammeln und gleichberechtigt nebeneinander auf einen Tisch legen, dann können wir sehr schnell sehen, dass diese Berichte weder anekdotisch noch unnormal sind. Wir werden erkennen, dass es sich tatsächlich um gewöhnliche Erfahrungen unserer Spezies handelt.“
Jeffrey Kripal1
Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos und seiner Frau Hekabe, ereilte ein tragisches Schicksal. Schön wie Aphrodite soll sie gewesen sein, was den Orakelgott Apollon so verzaubert haben soll, dass er um sie zu werben begann. Um sie für sich zu gewinnen, verlieh er ihr eine besondere Fähigkeit: die Gabe der Zukunftsschau. Kassandra aber ließ sich von seinem Geschenk nicht beeindrucken und entzog sich hartnäckig dem Werben des Sonnengottes. Aus Rache verwandelte Apollon ihre Gabe in einen Fluch: Von nun an sollte sie die Zukunft zwar sehen können, doch würde niemand ihr glauben. Und so kam es: Kassandra warnte das Volk von Troja vor seinem Untergang, sie erkannte die Gefahr des Trojanischen Pferdes und sah den Tod von Agamemnon voraus, ebenso wie ihren eigenen. Die Trojaner aber hielten sie für verrückt und sperrten sie ein.
Kassandra gilt heute als Unkenruferin, als warnende Stimme vor dem Untergang – doch ihr Mythos beschreibt archetypisch das Schicksal vieler Deuter und Wahrsager. Sie sind von der Aura eines Wissens umgeben, das viele Menschen gern hätten, und scheinen über einen besonderen Sinn zu verfügen, mit dem sie die Zeit kurzschließen können. Immer aber haftet ihren Aussagen eine unüberbrückbare Volatilität an: Erst im Nachhinein können Prophezeiungen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden – dann nämlich, wenn sie eintreffen.
Sind wir heute, im Zeitalter der doppelblinden Placebostudien und Quantenverschränkung, der Lösung des Rätsels der Zukunftsschau einen Schritt näher? Finden sich in aktuellen Theorien womöglich Erklärungen für das Phänomen?
Der vorliegende Artikel ist eine Annäherung – denn die Schulwissenschaft behandelt die Frage der Präkognition so stiefmütterlich wie alle Anomalien, die ihr theoretisches Gebäude ins Wanken bringen könnten.
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