Mai 2016. Ich sitze mit meiner Freundin in einem Bus, der aus der estnischen Hauptstadt Tallinn ins Nirgendwo zuckelt. Als wir die Autobahn verlassen, werden die Dörfer kleiner, ab und zu zweigt ein Weg zu einem alleinstehenden Gehöft ab, während die Sonne über die Ostsee herüberblinzelt. Schließlich stoppt der Bus unvermittelt in einem Waldgebiet – Station Hara, wir sind da. Am Wegrand wartet ein junger Lockenkopf, lacht herzlich und reicht uns die Hand: „Hi, I’m Jim!“ – dann lässt er uns in einen alten Golf steigen, in dem ich mich auf den Rücksitz zwischen lauter Werkzeug quetsche.
Es ist meine erste Begegnung mit einem „Garbage Warrior“ – einem Ökokrieger, der sich im estnischen Lahemaa-Nationalpark verwirklicht hat. Der Begriff geht auf den gleichnamigen Film zurück, der den Architekten Michael Reynolds bei seinen Versuchen begleitet, ein nachhaltiges, naturnahes und kostengünstiges Baukonzept zu entwickeln, wobei er immer wieder mit den Tücken des Systems konfrontiert wird. Jim hat sich davon anstecken lassen und mit seiner estnischen Freundin Maarja hier im Wald sein eigenes Projekt umgesetzt.
Eigentlich sind wir nur auf einem über Airbnb gebuchten Kurzurlaub, aber sofort fange ich Feuer. Während der vier Tage, die wir bei den beiden im Wald verbringen, frage ich Jim Löcher in den Bauch und lasse mir von ihm das ganze Gelände zeigen: seine selbst gebaute Solaranlage, das Strohballenhaus mit den herangeschleppten Möbeln und dem Arsenal an Batterien, bestaune die aus Ästen gezimmerte Außenküche, das Gewächshaus, die Komposttoilette und genieße einen Abend in der Lehmwandsauna mit ihrem russischen Bullerjan bei dicken Schaschlikspießen und einem kühlen Bier. Jims Ausstrahlung lässt mich sofort ein Interview ins Auge fassen, dem er auch zustimmt. Wie sich aber zeigt, ist er so in sein Projekt vertieft, dass ich ihn einfach nicht zu fassen bekomme. Dann erreicht mich im Dezember 2017 aus dem Blauen heraus eine Nachricht: Alles sei drunter und drüber gegangen – aber jetzt sei das ganze Projekt in trockenen Tüchern und die Zeit endlich reif. Ich fackele nicht lange und packe die Gelegenheit beim Schopf.
Daniel Wagner (DW): Jim, dein Projekt Kodu war schon bei unserer letzten Begegnung ein ziemlich cooler Ort – mit Sauna, Schlafzelt im Wald, Dusche und Küche im Freien und allerlei anderen Dingen. Ich war schlichtweg beeindruckt. Aber das alles hat dir offenbar nicht gereicht und du hast fleißig weitergewerkelt – nicht mal für ein Interview hattest du Zeit! Was zum Teufel hast du noch alles gebaut – was gibt’s Neues aus dem Lahemaa-Nationalpark?
Jim Self (JS): Mensch, Daniel, wir haben hier wirklich Vollgas gegeben und das Gelände und die Systeme verbessert und auf Vordermann gebracht. Jetzt können wir gleichzeitig bis zu 25 Personen komfortabel unterbringen und stellen zudem für Gäste, die Yoga praktizieren, meditieren oder tanzen wollen, entsprechende Räumlichkeiten in unserem neuen Großraumzelt zur Verfügung. Maarja bereist zurzeit Nepal, wo sie verschiedene Kurse und Workshops besucht und Stoffe und Dekoration für das Zelt besorgt. Einen Ort wie diesen zu haben, gibt dem Gelände noch einmal eine ganz andere Energie.
Auch für die grundlegenden Dinge haben wir gesorgt: In einer Art Baumhaus haben wir vier Komposttoiletten installiert, zu denen man über eine Wendeltreppe gelangt, sodass man beim Verrichten seines „Geschäfts“ eine prima Aussicht hat – „Poo with a view“! Man startet entspannt in den Tag, während man in den Wald schaut und den Vögeln lauscht. Wie könnte der Tag besser beginnen?
Außerdem haben wir jetzt eine Menge alte Fahrräder, sodass die Gäste die Gegend mittels der guten alten Muskelkraft erkunden können. Wir haben Wasserleitungen von der Quelle zum Gelände verlegt; über Elektrokabel versorgen unsere selbst gefertigten Solarzellen die gesamte Anlage. Es gibt also frisches Trinkwasser, das sich wie das Wasser für die heißen Duschen aus dem nahe gelegenen Bach speist, und auf dem gesamten Gelände steht eine Gleichspannung von zwölf Volt zur Verfügung – um Lampen anzuschließen, seinen Laptop aufzuladen und so weiter. Wir haben sogar superschnelles WLAN! Bei der Nutzung fossiler Brennstoffe mussten wir einen Kompromiss machen und in der Freiluftküche einen Propangas-Kühlschrank installieren. Das war aus rechtlichen Gründen unumgänglich, um die Zulassung als Erholungs- und Ökoherberge zu bekommen. Dafür klaut die Katze nicht mehr die Butter, und für ein kühles Bier müssen wir nicht mehr zum Bach laufen. Es geht hier also inzwischen richtig zivilisiert zu, ohne dass das der rauen, ehrlichen Atmosphäre Abbruch getan hätte.
Als wir das Gelände bezogen haben, gab es kein fließendes Wasser. Damals haben wir eimerweise Wasser vom Bach zu einer alten, gusseisernen Badewanne geschleppt, unter der wir ein Feuer entfacht haben. So badeten wir, draußen im Regen oder Schnee. Es war echt zauberhaft. Ich meine – wer würde kein heißes Bad in seinem Garten nehmen wollen? So viele Freunde fanden das klasse, dass wir noch vier weitere Badewannen organisiert haben und sie diesen Sommer gastgerecht installieren werden. Wir überlegen, eine davon mit Lehm zu füllen, sodass wir Lehmbäder und Heißwasserkuren anbieten können – ein Wellnessprogramm sozusagen. Wäre doch cool, oder? Weißt du, der Punkt dabei ist der: Die meisten Menschen glauben, dass sie im Urlaub oder auf einer Reise unglaublich aktiv sein und viele Sehenswürdigkeiten besuchen müssten. Das ist natürlich absolut nachvollziehbar, und wir haben hier tolle Möglichkeiten. Man kann sich etwa aufs Rad schwingen und den verlassenen sowjetischen U-Boot-Stützpunkt besuchen oder die Küste entlangradeln und in die Seen springen. Aber manchmal braucht man im Leben einfach eine Pause. Nimm dir einen Tag Auszeit und entspann dich. Nimm ein heißes Bad unter großen Kiefernbäumen – und wenn du Glück hast, fallen ein paar Regentropfen direkt in deine Badewanne. Magisch.
Wenn du einen Eindruck davon bekommen möchtest: Ein paar unserer Freunde von der Kunsthochschule haben im Rahmen eines Projekts einen Kurzfilm darüber gedreht.1
DW: Wow, alle Achtung! Das kann sich schon sehen lassen. Und all das begann, wenn ich mich recht entsinne, mit dem Film „Garbage Warrior“? Leider sind dieses Konzept und die Arbeit von Michael Reynolds bei uns nicht sehr bekannt. Würdest du dich selbst als einen solchen „Krieger“ bezeichnen?
JS: Witzig, dass du das fragst – ursprünglich habe ich mich überhaupt nicht als irgendeine Art von Krieger gesehen. Doch letztes Jahr zu Weihnachten, als ich meine Familie in England besuchte, sagte die Mutter eines alten Schulfreundes zu mir, ich sei ein „richtiger Ökokrieger“. Ich lachte kurz, hielt einen Moment inne und entgegnete dann: Ich suche einfach nach Wegen, mir zeitlichen Freiraum zu verschaffen und weniger von einem destruktiven Sozialsystem abhängig zu sein. Als ich sah, dass sie die Antwort ein wenig verwirrte, ergänzte ich: Wenn ich überhaupt irgendein Krieger bin, dann einer der Lebenslust. Ich bin ein vehementer Verfechter der Idee, dass jeder das tun sollte, was ihm Freude bereitet.
Für mich bedeutet das, im Wald zu leben und kurortähnliche Zentren zu errichten, ohne mir von einer Bank Tausende von Euros zu leihen. Stattdessen bediene ich mich der reichlich vorhandenen Altmaterialien, die unsere umweltschädigende Gesellschaft allerorten hinterlässt. Jeder will neuwertige Produkte. Selbst Dinge, die extra auf alt und Retrolook getrimmt werden, sollen neu sein. Wie damals, als sich die Leute nagelneue Jeans zulegten, die schon voller künstlicher Löcher waren! Vielleicht gibt es diese Mode immer noch. Ich für meinen Teil habe mich von solchen Verhaltensmustern zum Glück schon vor längerer Zeit verabschiedet …
DW: Sah dein Leben früher anders aus? Wie genau? Wann hast du damit angefangen, einen anderen Weg einzuschlagen, und was genau war der Auslöser?
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