Einmal Goblin-Universum und zurück. Hoffentlich.

Spurlos Verschwundene, unerklärliche Flugzeugabstürze, intelligente Lichtphänomene, seltsame Großkatzen, Men in Black und Bigfoots – überall auf dem Globus begegnen Menschen einer Welt, die nicht nur den bekannten Gesetzen der Physik, sondern unserem gesamten modernen Weltbild trotzt. Dank dem Internet wächst auch die internationale Forschergemeinde zusammen, die die Berichte von Begegnungen mit der Anderswelt auswertet und zu deuten versucht.
Daniel Loose hat sich für uns ins Goblin-Universum begeben und stellt mit Paul Sinclair und Timothy Renner zwei Autoren vor, die die High-Strangeness-Phänomene ihres heimatlichen Umfelds erkundet und dokumentiert haben.

Noch einmal Pennsylvania

Bevor wir unsere kleine Panoramaschau abschließen, wollen wir uns noch einmal nach Pennsylvania begeben – von Yorkshire nach York County –, um einem weiteren zeitgenössischen Kartografen des Goblin-Universums einen Besuch abzustatten. Timothy Renner, der in gewissem Sinne in Gordons Fußstapfen tritt, spürt wie Sinclair den Seltsamkeiten seiner Heimat nach – ohne sich dabei an der Sensationshascherei zu beteiligen, an der das Metier krankt. So beginnt er sein erstes Buch11 damit, dass er ein Hühnchen mit den Machern der Fernsehserie „Weird U.S.“ rupft, die die gruslige, aber leicht als Fantasieprodukt zu entlarvende urbane Legende von den „Sieben Höllentoren der Toad Road“ unkritisch übernahmen – und mit Renners Namen in Verbindung brachten. Im Begleitbuch zur Serie, die auf dem History Channel ausgestrahlt wird, liest man von sieben Toren, deren Durchschreiten den Wanderer angeblich immer tiefer ins Goblin-Universum führt, sowie von niedergebrannten Irrenhäusern und verrückten Doktoren, die in den Tiefen des Waldes ihr Unwesen getrieben haben sollen. Doch mit Ausnahme der Straße selbst, die mittlerweile auf weiten Strecken vom Wald überwuchert wird, entsprangen sämtliche Elemente der Legende entweder der Fantasie oder gingen auf gänzlich unspektakuläre Versatzstücke zurück: Der reale Doktor war ein angesehenes, sozial engagiertes Mitglied der Gemeinschaft, ein Irrenhaus hat weit und breit nie existiert, und als tatsächlich einmal ein Sanatorium abbrannte, kam niemand zu Schaden. Renner gibt sich keinen Illusionen darüber hin, wie Medien und Menschen funktionieren:

„Es ist eigentlich schon zu spät – in dem Moment, als die Geschichte in den Büchern abgedruckt wurde, ist sie gewissermaßen in den Kanon eingegangen.“

Die Entlarvung der urbanen Legende dient dem Autoren, der vor zwei Jahrzehnten mit seiner Frau nach York County zog, jedoch nur als Sprungbrett ins tatsächliche Goblin-Universum. Während seiner Recherchen zu den erwähnten Legenden kamen Renner zahlreiche Geschichten über paranormale Vorfälle zu Ohren, die sich in den Wäldern entlang der Toad Road zugetragen haben sollen. „Schenkt man den Augenzeugen Glauben, spielen sich dort auch heute noch sehr seltsame Dinge ab.“ Der Autor, der seine Bücher selbst illustriert, betont, dass es sich dabei nur selten um Geistererscheinungen, sondern zumeist um Erlebnisse handelt, die auf verschiedene Arten von Kryptiden hindeuten und physische Komponenten beinhalten (Fußabdrücke, Stimmen, Körperkontakt usw.). Zu den Phänomenen zählten:

„Bigfoot, Hundemenschen und andere merkwürdige Wesen; die mysteriösen schwarzen Hunde, die an so vielen Schauplätzen aufzutauchen scheinen, von denen paranormale Aktivitäten berichtet werden; seltsame Humanoide; Schreie aus dem Wald; unsichtbare zweibeinige Wesen, die sich im Unterholz parallel zum Zeugen bewegen, doch stets außerhalb des Sichtfelds bleiben; leuchtende rote Augen, die einen aus der Dunkelheit anstarren; Orbs und andere rätselhafte Lichter sowie schattenhafte Wesen, die hinter den Bäumen hervorlugen.“

Bereits die Ureinwohner des heutigen Pennsylvania warnten die ersten Europäer, sich vor dem Hidebehind in Acht zu nehmen: Nur die Tapfersten, die unter allen Umständen der Versuchung widerstehen könnten, sich umzudrehen, sollten das Schlussglied einer Gruppe bilden, die sich durch die Wälder bewegte. Wer sich umschaute, galt als verloren. Renner sinniert darüber, ob es sich beim Hidebehind um eine altmodische Umschreibung für Bigfoot handeln könnte, dem der Autor – gestützt auf Gordons Pionierarbeit sowie den reichhaltigen, in Nordamerika über Jahrhunderte gewachsenen Fundus zum Thema – zwei eigene Bücher widmete. Doch die multidimensionale Fauna von York County hat mehr zu bieten. Der Vater eines dort beheimateten Musikers erschrak Ende der 1960er Jahre beim Motorradfahren so heftig, dass er den Lenker verriss, verunfallte und eine Verletzung davontrug, die ihn bis ins Alter plagen sollte: Um ein Haar hätte er eine große, grüne, froschähnliche Gestalt überfahren, die die Straße entlangkroch.

renner

Der Illustrator und Musiker Timothy Renner ist Gastgeber des Podcasts „Strange Familiars“ und Verfasser von bisher vier Büchern. Website: StrangeFamiliars.com

Oder hören wir, was einem jungen Burschen namens Michael Findley 1973 zustieß, der – fasziniert von der Legende von den Höllentoren – mehrmals die Toad Road aufsuchte. Nachdem er dort eines Abends sein Auto abgestellt und ein Weilchen in der Abenddämmerung verbracht hatte, wurde er der „unheimlichen Stille“ gewahr, die sich über die Umgebung gelegt hatte. Seine Bemühungen, sich von dannen zu machen, scheiterten daran, dass (Sie ahnen es) sein Wagen nicht mehr ansprang. Findley entschloss sich zu warten, es in Abständen erneut zu versuchen und auf etwaige Passanten zu hoffen. Seine Entscheidung begann er bald zu bereuen, als aus dem Dunkel wiederholt ein „Etwas“ gegen sein Auto rumste, das er nie zu Gesicht bekam und das sich jedes Mal wieder ins Unterholz verzog – bis zur nächsten Attacke. Gegen vier Uhr früh sah er ein, dass er dort unmöglich länger verweilen konnte, und lief los, in der Hoffnung, ein erleuchtetes Haus oder eine Straße zu entdecken. Doch allzu weit kam er nicht: Er stieß bald mit einem „riesigen, zweibeinigen, grünhaarigen Monster“ zusammen, das ihn niederschlug. Wie er ins Krankenhaus kam, in dem er am nächsten Morgen erwachte, liegt bis heute im Dunkeln. Die Ärzte behandelten, wie die Lokalzeitungen berichteten, die seltsamen Schrammen, mit denen sein Gesicht übersät war – ein Detail, das sich auch bei etlichen 411-Fällen findet. Die Albträume plagen Michael noch heute. Es gelang Renner, Findley ausfindig zu machen und persönlich zu interviewen; doch respektierte er dessen Privatsphäre, als der Zeuge die Anrufe des Autors schließlich nicht mehr erwiderte. „Ich wollte seine Geschichte dokumentieren, nicht ihn foltern.“12

Der Skeptiker wird uns angesichts eines zerschrammten Gesichts, das von einem grünen Monster verursacht worden sein soll, unweigerlich mit Ockhams Rasiermesser niederstechen wollen. Doch müsste er dann erklären, warum es ähnliche Berichte auch aus anderen Bundesstaaten gibt – von Zeugen, die einander nicht kennen und in der Regel gar nichts von übernatürlichen Dingen wissen wollen. Renner setzt die Dinge ins Verhältnis:

„Ein grün behaartes Monster – das klingt so absonderlich, dass es sich leicht abtun lässt. Doch […] in anderen Staaten wird von riesigen lilafarbenen Monstern berichtet. Von gewaltigen, purpurnen Kreaturen mit Fledermausflügeln von 13 Metern Spannweite. Und was ist mit den aufrecht gehenden, bekleideten und Zigaretten rauchenden Hundewesen, die nahe der Skinwalker-Ranch gesehen wurden? Im Licht solcher Sichtungen erscheint ein grünhaariges Monster gar nicht mehr so absonderlich.“

Hinzu kommt der Aspekt der Glaubwürdigkeit: „Zuverlässige Zeugen, die [durch ihre Aussagen] nichts zu gewinnen haben, geben detaillierte Beschreibungen und Berichte ab.“ Noch nie habe ich einen Skeptiker Ockham ins Spiel bringen hören, wenn die Diskussion auf diesen offenkundigen Sachverhalt zu sprechen kam. Dem Weltbild der modernen Wissenschaft zufolge können solche Wesen nicht existieren – doch die Leute hören nicht auf, in konsistenter Weise von ihnen zu berichten. Es liegt auf der Hand, wie sich dieser scheinbare Widerspruch (mittels Ockham!) auf einfache Weise lösen ließe.

Schach mit dem Goblin-Universum

Wie im Falle von Bempton tritt der goblinhafte Charakter der Region erst in dem Moment deutlich hervor, in dem sich ein ortsansässiger Rechercheur durch die Archive wühlt und die Anwohner ermutigt, ihre Erlebnisse – gegebenenfalls anonymisiert – mitzuteilen. Aus der Fülle seltsamer Geschichten, die Renner auf diese Weise zusammentrug, sei nur eine Handvoll herausgegriffen: Harriet Horn und ihr Kollege standen 1946 beim Wasserholen unvermittelt einem fünf Meter großen, dürren, armlosen Wesen gegenüber, das wie eine Mumie eingewickelt zu sein schien und aus dessen Kopf sechs Messer ragten. Harry Metzel machte sich 1902 mit einem unerschrockenen Freund auf, den Fremden zur Rede zu stellen, der allnächtlich auf einem örtlichen Friedhof „Nearer My God to Thee“ sang. „Hey, Sie da!“, riefen sie der Gestalt zu, die tatsächlich unbemerkt auf dem nächtlichen Friedhof erschienen war und mit glockenreiner Stimme zu trällern begonnen hatte. „Wer sind Sie?“, verlangten sie von dem Fremden zu wissen, der ihnen den Rücken zugewandt hatte. Langsam drehte er sich um und fixierte die beiden Helden aus „Augen, die wie Kohlen glühten“ und in einem leichenblassen Gesicht ruhten.

„Das war genug für uns. Wäre eine Horde wilder Indianer hinter uns her gewesen, hätten wir York auch nicht schneller erreicht. Sofern es uns betrifft, kann der Sänger Prospect Hill Cemetery ganz für sich alleine haben – wann immer er will.“

Der Geschäftsmann Donald Reeser fragt sich heute noch, was er eigentlich 2013 auf der Landstraße gesehen hat – und das nicht als einziger. Als er sich dem (wie er dachte) dürren Mann mit dem seltsamen Gang näherte, fiel dieser unvermittelt auf alle Viere und lief behend davon. Der Zeuge konnte gerade noch erkennen, dass das Wesen eine Art Hundeschnauze besaß und von Kopf bis Fuß behaart und bekleidet war. Im Jahr 1905 wusste eine Lokalzeitung von „zwei Herren und deren Gattinnen“ zu berichten – im Oktober, nicht am 1. April –, die am helllichten Tage ein mannshohes, armloses Wesen beobachtet hatten, das dem Fluss entstiegen war. „Je länger ich Geschichten über die Toad Road nachjage, desto verrückter scheinen sie zu werden“, konstatiert Renner und witzelt: „Die sieben Höllentore gibt es nicht – und doch scheinen sie zu existieren. Wie wäre das als Koan?“

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