Sinclair ist es ernst. Der Laienforscher beschränkt sich nicht darauf, in Archiven zu graben und bei Augenzeugen an die Tür zu klopfen. Er inspiziert und vermisst Tatorte, spürt möglichen schamanischen Ursprüngen der regionalen Kultur nach und macht sich zu nachtschlafender Zeit auf den Weg, um Ufos oder verstümmeltes Vieh auf Film zu bannen. Einmal vergrub Sinclair an bestimmten Punkten nahe der Küste Paare von Uhren, um die von ihm vermuteten Zeitanomalien nachzuweisen. Möglicherweise ist ihm das tatsächlich gelungen: Bei der dritten Überprüfung zeigte eines der Paare (wohlgemerkt beide Exemplare, sodass ein technischer Defekt praktisch auszuschließen ist) eine andere als die „tatsächliche“ Zeit an.
Während seiner Nachforschungen zur Legende um den „Werwolf von Flixton“ verbrachte Sinclair eine Nacht im nahe gelegenen Wald, um die Atmosphäre des Ortes aufzunehmen. „Ich habe mich zu Tode gefürchtet. Ich bin kein mutiger Mensch“, kommentierte er in einem Interview.7 Einmal habe er deutliche, laute Klopfgeräusche neben sich vernommen; ein andermal geriet er unvermittelt in einen Bereich, der penetrant nach faulen Eiern stank, ohne dass eine Ursache auszumachen gewesen wäre – eine Konstante, die von zahllosen Begegnungen der unheimlichen Art bekannt ist. An die Existenz eines bei Vollmond gestaltwandelnden Menschen glaubt Sinclair ausdrücklich nicht, doch berichten die Einheimischen bis in unsere heutige Zeit recht häufig von Begegnungen mit verschiedenartigen Kryptiden: vom britischen Äquivalent des Bigfoot über „fremdartige Großkatzen“ (engl.: alien big cats, ABC) bis hin zu kaum definierbaren zweibeinigen Gestalten, die den Augenzeugen noch Jahrzehnte später schlaflose Nächte bereiten. „Es hat mich einfach nur angestarrt, mit seinen rötlich-braunen Augen“, erinnerte sich ein Greis, der Sinclair nach einigem Zögern im Pub von Flixton ansprach. Er und sein Begleiter waren elf Jahre alt, als sie am Grabhügel von Sharp Howe eine behaarte, dürre Gestalt kauern sahen, die etwas in den Händen (oder Klauen) hielt. „Es hatte den Kopf eines Hundes, doch es war kein Hund. […] Ich kann noch immer die Angst spüren, die es mir einjagte.“ Flixton hat wenige Einwohner, und die Gründe, warum sie nur ungern von ihren Sichtungen sprechen, liegen auf der Hand.
„Niemand will darüber reden, doch ich weiß, dass das, was wir gesehen haben, real war. […] Es wurde später noch ein paar Mal gesichtet, doch es ist derart seltsam, dass man ausgelacht wird, wenn man von seinem Erlebnis erzählt. Außerdem glauben die Leute, es würde Unglück bringen.“
Ein anderer Bauer musste, um auf seinem routinemäßigen nächtlichen Weg ein Tor passieren zu können, jedes Mal mit dem Arm hinter dasselbe langen und manuell einen Riegel öffnen. Einmal, so berichtete er, habe sich dabei eine behaarte Hand auf die seine gelegt. Er sah weder leuchtende Augen noch einen Körper – nur die Hand.
Die wollen nicht nur spielen …
Im vorangegangenen Abschnitt klang bereits ein Umstand an, dem begeisterte Erforscher des Paranormalen nicht immer den gebotenen Respekt zollen: Wer sich ins Goblin-Universum vorwagt, muss damit rechnen, auch mit dessen dunklen Aspekten (sowie denen unserer eigenen Welt) in Berührung zu kommen. So erging es auch Paul Sinclair, etwa als ihm Alan – ein langjähriger Bekannter der Familie – eines Tages ganz aufgelöst von den Neuigkeiten berichtete, die zwei seiner Freunde betrafen. Die beiden waren in der Region als Ufo-Aktivisten bekannt. Nun waren beide verschwunden. Alan war unfreiwillig in die Ereignisse verwickelt worden, die dem vorausgegangen waren. In der Nähe des verlassenen Luftwaffenstützpunktes hatten die beiden jungen Amateurforscher etwas gefunden, das, wie sie dachten, „alles für immer verändern wird“: etwas, das „definitiv nach den Überresten einer nicht identifizierten Lebensform aussah“, erklärte Alan, der Fotos des Fundes gesehen haben will. Doch als die Ufologen bald darauf auf Schritt und Tritt von schwarzen Autos verfolgt wurden und stumme Telefonanrufe erhielten, bekam es einer der beiden mit der Angst zu tun. Sein Partner, der sich nicht einschüchtern lassen wollte, verschwand kurze Zeit später – man fand nur das verlassene Auto. Der Hinterbliebene packte umgehend seine sieben Sachen und tauchte unter. Zwar verleiht Sinclair seiner Skepsis bezüglich der Geschichte Ausdruck, weist jedoch auch darauf hin, dass er Alan seit dessen Kindheit kennt und seine Emotionen authentisch wirkten.
Zudem fügt sich die Schilderung, die für sich betrachtet eher nach schlechtem Kino klingt, mühelos in das Gesamtbild ein, das Sinclairs Recherchen vom Hotspot Bempton zeichnen – eine skurrile Schau, die Pendants überall auf der Welt zu haben scheint. Ältere, internetferne Herrschaften, die nie von den Men in Black (MIB) gehört haben, berichteten Sinclair etwa von Begegnungen mit ebensolchen, beim Spaziergang in einsamer Landschaft. In einem anderen Fall klopften zwei in schwarz gekleidete Herren an die Tür eines Bauern, nachdem dieser ein fliegendes Objekt beobachtet hatte. „Sie haben Dinge gesehen, die Sie nicht hätten sehen sollen“, erklärte einer der Herren, deren Augen vollständig schwarz waren und deren Gesichter weder Augenbrauen noch Fältchen aufwiesen. „Von jetzt an werden wir Sie beobachten.“ Geschichten wie diese kursieren seit Jahrzehnten; neu ist jedoch, dass wir den Zeugen in die Augen schauen können.8 Und müssen: Wer wollte es rechtfertigen, Privatpersonen aus allen Winkeln der Welt fortwährend der Lüge bzw. Einbildung zu bezichtigen, die sich mit ihren Berichten dem Spott ihrer Mitmenschen aussetzen – während sich die konsistenten Elemente immer mehr herauskristallisieren? Nick Redfern konnte beispielsweise durch die Auswertung zahlreicher Kontakterfahrungen mit MIB zeigen, dass diese einerseits ein reales Phänomen darstellen, andererseits jedoch (von wenigen Ausnahmen abgesehen) offenbar nicht menschlicher Natur sind – geschweige denn, dass es sich bei ihnen um „Agenten der Regierung“ handeln würde (wie die gleichnamige Spielfilmreihe suggeriert). Ob im spirituellen Bereich, in der Ufo-Forschung oder in den Naturwissenschaften: Die Erkenntnis, dass wir in einem multi- bzw. interdimensionalen Kosmos leben und längst nicht nur unsere Realitätsebene mit Trägern (mehr oder weniger) intelligenten Bewusstseins bevölkert ist, setzt sich zunehmend durch. Während die Wahrnehmung nichtirdischer Wesenheiten für immer mehr Menschen zum Alltag gehört, spricht kaum noch jemand von den klassischen Außerirdischen, die auf physischen Raumschiffen von fernen Planeten zu uns gereist sein sollen.
Sinclair sollte bald seine eigene Begegnung der unheimlichen Art haben. Als er am helllichten Tag in seinem Heimatort unterwegs war, rief ihm ein wildfremder Mann, der trotz des einsetzenden Winters mit nacktem Oberkörper auf einer Mauer saß, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus zu: „Du hast das Licht heruntergebracht!“ Sinclair wünschte dem Burschen noch einen schönen Tag, doch dieser insistierte: „Du weißt, was du tust. Du hast das Licht heruntergebracht!“9Auf dem Rückweg lauerte er Sinclair noch einmal auf, verwickelte ihn in einen Wortwechsel und erklärte, Sinclair würde „eine Menge Ärger verursachen“ und müsse damit aufhören. „Er konnte erstaunlich geschickt mit Worten umgehen“, erinnert sich der Autor. „Alles, was er sagte, hatte eine doppelte Bedeutung.“ Mach mal halblang, ist man geneigt einzuwenden, das war einfach ein komischer Kauz – bis man sich der Parallelen zu ähnlich gelagerten Vorkommnissen und der Tatsache gewahr wird, dass Wesenheiten wie etwa das „Feenvolk“ gerne auch in menschlicher Gestalt in Erscheinung treten.10
Die Grenzen zwischen hiesiger und jenseitiger Sphäre scheinen ohnehin zu verschwimmen, sobald man in die Schattenwelten dieses Planeten vordringt. Lange Zeit konnte Sinclair nur mutmaßen, ob und inwiefern sich das britische Militär für die Lichterscheinungen von Flamborough interessierte – bis er von zwei jungen Fischern hörte, die einst am Strand plötzlich von Soldaten umzingelt wurden, nachdem sie beobachtet hatten, wie ein dreieckiges, dunkles Flugobjekt ins Meer eingetaucht war. Mit vorgehaltener Waffe erklärten die Uniformierten den beiden, die sich für das Opfer eines Missverständnisses hielten: „Hört zu, Jungs. Wenn ihr nicht bei drei vom Strand verschwunden seid, geht ihr nirgendwo mehr hin.“ Das brauchte man ihnen nicht zwei Mal zu sagen. Aus sicherer Entfernung schauten sie noch einmal zum Strand hinunter, der inzwischen von Soldaten gewimmelt habe.
Unerwünscht waren auch Sinclairs Nachforschungen zu den Ungereimtheiten, die Jahrzehnte zurückliegende Flugzeugabstürze betrafen, wie etwa das Schicksal von Tornado ZA610. Alten Zeitungsartikeln entnahm der Forscher übereinstimmend, dass man zwar das Wrack nicht gefunden hatte, wohl aber – gleich am nächsten Tag – zwei ertrunkene, noch an ihre Schleudersitze geschnallte Besatzungsmitglieder. Nur gehörte eine der Leichen gar nicht zu ZA610, sondern zu einem über ein Jahr zurückliegenden Hubschrauberabsturz. Weitere Seltsamkeiten kamen ans Licht, als Sinclair das Kunststück gelang, ein Mitglied der damaligen Bergungsmannschaft ausfindig zu machen. So hatte sich das Militär merkwürdigerweise Sorgen wegen radioaktiver Strahlung gemacht; außerdem wundert sich der Zeuge noch heute, warum der ansonsten vollständig bekleidete Navigator seine Unterwäsche um den Kopf gewickelt hatte. (Sie erinnern sich an die zahlreichen Kleidungsanomalien, die im Zusammenhang mit den Missing-411-Fällen dokumentiert worden sind?) Bald darauf forderte ein anonymer Anrufer Sinclair auf, seine Nase nicht länger in die Vorgänge zu stecken, die sich einst in der Nordsee abgespielt hatten. Wie zur Untermauerung gab es später einen weiteren Anruf, dessen Inhalt Sinclair als Teil eines Gespräches identifizierte, das er am selben Morgen in der heimischen Küche mit seiner Familie geführt hatte.
Kommentar schreiben