Und immer wieder Vermisstenfälle
Auch Sinclair beschäftigte sich intensiv mit dem Schicksal einiger Personen, die unter mysteriösen Umständen in der Gegend um Bempton verschwanden. Dass jemand verloren geht, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, ist an sich schon seltsam genug. Hinzu kommt jedoch, dass es sich hier im Gegensatz zu den riesigen amerikanischen Nationalparks, die den Schauplatz der meisten 411-Fälle bilden, um ein überschaubares Areal von wenigen Quadratkilometern handelt. „Wie konnte mein Mann einfach von der Erdoberfläche verschwinden?“, fragt die Ehefrau von John Deakin, der im Herbst 2004 zu einer kleinen Wanderung durch die ihm bestens vertraute Umgebung aufgebrochen war. Die schien er jedoch nie angetreten zu haben, hatte er doch Wanderschuhe, Spazierstock und Butterbrote im Auto gelassen. Die Möglichkeit, dass sich der lebensfrohe werdende Großvater, der sich noch bei einem Passanten erkundigt hatte, ob er außerhalb der Saison ein Parkticket lösen müsse, von den nahe gelegenen Klippen gestürzt haben könnte, schloss seine Frau kategorisch aus. Weder Suchtrupps noch Helikopter wurden fündig, obwohl die karge Novemberlandschaft leicht zu überschauen war.
Allein zwischen 2004 und 2014 verschwanden zehn weitere Personen unter ähnlich seltsamen Umständen aus Bempton. Sinclair, der sich der Einstreuungen aus dem Goblin-Universum seit seiner Kindheit bewusst ist, gewann den Eindruck, dass die offiziellen Erklärungen häufig keinerlei Sinn ergaben und an manchen Geschichten etwas faul war. Wie auch Paulides, der sich etwa zur selben Zeit der Ungereimtheiten bei bestimmten Vermisstenfällen gewahr zu werden begann, lernte auch Sinclair, zwischen den Zeilen offizieller Verlautbarungen zu lesen. Formulierungen, die etwa davon sprachen, der Betroffene müsse „aufgrund mangelnder Konzentration [von den Klippen] gestürzt“ oder „beim Laufen in Schwierigkeiten geraten“ sein, gebrauche man laut Sinclair „einzig und allein deshalb, weil die Behörden keinen echten Anhaltspunkt haben“, was tatsächlich vorgefallen ist. „In Ermangelung irgendeiner anderweitigen Erklärung scheint man uns nur solche Theorien zu präsentieren, die in unser Verständnis passen“, schreibt der Autor in „Truth Proof“.
„Vielleicht ist das der menschlichen Denkweise geschuldet, die darauf festgelegt zu sein scheint, keine Überlegungen außerhalb dessen anzustellen, was allgemein für möglich gehalten wird.“
In der Region um Bempton sind es die Menschen gewohnt, Dinge zu erleben, die nicht möglich sind. Dabei gibt es Hinweise zuhauf, die zu einem besseren Verständnis der mysteriösen Verschwindens- und anderer Fälle führen könnten, würde man sie nur aufgreifen und systematisch auswerten. Viele alte Kulturen wissen – um nur ein Beispiel zu geben – von parallelen Welten, Portalen sowie von Wesenheiten, die den Geist eines Wanderers zu verwirren, ihm Trugbilder vorzugaukeln und ihn tief in die Wildnis zu locken vermögen. Die auf physische Beweise fixierte moderne Wissenschaft misst dem freilich keine Bedeutung bei – während das Internet von Erlebnisberichten heutiger Zeitgenossen überquillt, die Ähnliches erlebt (und überlebt) haben. „Ich persönlich bin der Ansicht“, bemerkt Sinclair, „dass das Areal [um Bempton] eine Art Kanal für seltsame Ereignisse darstellt. Welche Aspekte dabei für andere Aspekte ursächlich sind oder nicht, lässt sich unmöglich sagen. Unser Verständnis dieser Phänomene würde meines Erachtens einen gewaltigen Sprung machen, würden wir sie als Realität akzeptieren.“
Im zweiten Band6 geht der Autor unter anderem ausführlich auf das merkwürdige Schicksal von James Gorman ein, der im tiefsten Winter aus einem Krankenhaus verschwand und vier Tage später tot auf einem 15 Kilometer entfernten Friedhof aufgefunden wurde, mit Hämatomen und Verletzungen übersät. Wie die Lokalpresse berichtete, habe er nur einen Schuh getragen; den zweiten fand man in zehn Metern Entfernung. „Dieser Umstand erregte meine Aufmerksamkeit, scheint doch fehlendes bzw. entferntes Schuhwerk bei vielen dieser unerklärlichen Todes- bzw. Verschwindensfälle eine Rolle zu spielen“, kommt Sinclair zu einem ähnlichen Schluss wie Paulides. Die unzähligen Blutergüsse schrieb man Gormans „Herumstolpern in der Dunkelheit“ zu, doch seine Socken waren offenbar in tadellosem Zustand. Seine Arme waren merkwürdig versteift, obwohl die Totenstarre gerade erst einzusetzen begann. Die Leiche hätte zudem schon Tage zuvor vom nahe gelegenen Weg aus gesehen werden müssen, der jeden Tag von Einheimischen frequentiert wird. Doch die größten Seltsamkeiten kamen erst ans Licht, als sich Sinclair entschloss, die Hinterbliebenen zu kontaktieren.
Die Kleidung, in der Gorman aufgefunden wurde, hatte er gar nicht mit ins Krankenhaus genommen. Wo und wie sollte er die Kleidung gewechselt haben? Wenige Stunden nach seinem Verschwinden soll er erfroren sein, doch sein Zuhause lag 25 Kilometer in entgegengesetzter Richtung, und er konnte weder Auto fahren noch hatte er Geld dabei. Warum hatte die Presse nicht darüber berichtet? Zudem war Gormans Kleidung voller Matsch, doch der Boden war seit Tagen steinhart gefroren. Obendrein stellte sich heraus, dass James’ Schwager dessen Tod minutiös vorhergeträumt hatte, einschließlich der geografischen Details des Fundorts der Leiche – an dem der Schwager nie zuvor gewesen war. Nur die Tatsache, dass Gorman in seinem Traum rosa Kleidung trug, blieb ihm lange Zeit unverständlich. Die Auflösung dieses Rätsels kommentierte eine Verwandte des Toten mit den Worten:
„Unser Jimmy wäre durchgedreht, hätte er geahnt, dass die Leichenbestatter ihn für die Beerdigung in ein rosafarbenes Gewand stecken würden.“
„Hat man rationale Erklärungen in Betracht gezogen, ohne fündig geworden zu sein, muss man das Irrationale erwägen. Nur weil etwas außerhalb unseres Verständnisses liegt, heißt das nicht, dass es nicht geschieht“, schreibt Sinclair. „Der Ort ist der Schlüssel“, betont er und führt aus:
„Ich bin davon überzeugt, dass es in dem Areal eine unbekannte Energie oder Lebenskraft gibt, und dass sie – worum auch immer es sich handelt – schon hier und anderswo zugegen war, lange bevor die Menschheit das Gewahrsein entwickelt hatte, um sie überhaupt bemerken zu können.“
Die Skinwalker-Ranch ist überall
Als Sinclair in der populären amerikanischen Talksendung „Coast to Coast AM“ mit den Worten angekündigt wurde, er habe die „britische Skinwalker-Ranch“ erforscht, hielt ich das zunächst für reißerisch und übertrieben. Das im US-Bundesstaat Utah gelegene Uinta-Becken, in dem sich die mysteriöse Ranch befindet, ist als eine Region bekannt, in der sich spektakuläre Vorgänge höchster Seltsamkeit konzentrieren. Intelligente Lichter, Aliens und Bigfoot, unverwundbare schwarze Riesenhunde und schwebende Portale werden von dort ebenso berichtet wie Viehverstümmelungen, Teleportationen, Stimmen aus dem Nichts und vieles mehr. Das ausgezeichnete Buch, das der Journalist George Knapp vor über zehn Jahren zusammen mit einem der Wissenschaftler verfasste, die die Phänomene vor Ort untersuchten, erscheint dieser Tage auf Deutsch. Studiert man Sinclairs Material, wird deutlich, dass der Vergleich zwar in der Tat reißerisch war, aber nicht übertrieben: Bempton steht der Skinwalker-Ranch in puncto Seltsamkeit kaum nach – nur wäre dies ohne Sinclairs Einsatz nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.
Ein Artikel der Bridlington Free Press etwa, der im Januar 1993 erschien und die merkwürdigen Todesumstände eines unglückseligen Mannes namens Raymond Johnston zum Gegenstand hatte, ruhte ein Vierteljahrhundert in den Archiven. Wie es damals hieß, habe man Johnston an einem Dezembernachmittag des Vorjahres splitternackt unweit eines Bauernhofes aufgefunden – mit schwersten Verletzungen, denen er kurz darauf erlag. Die Polizei verlautbarte, Johnston sei vermutlich auf der nahe gelegenen Landstraße von einem Auto erfasst worden, dessen Motorhaube möglicherweise mit Stierhörnern versehen war. Dann habe er sich noch eine Meile die Straße entlang geschleppt und sich dabei seiner Kleidung entledigt – einschließlich seiner Socken. Mit schwersten Kopf- und inneren Verletzungen, gebrochenem Schulterblatt und sieben gebrochenen Rippen, wohlgemerkt. Ein Polizist, der Sinclair 2016 in einem anderen Zusammenhang aufsuchte, bemerkte den auf dem Küchentisch liegenden 23 Jahre alten Zeitungsausschnitt. Wie sich herausstellte, war er damals an den Untersuchungen beteiligt gewesen. Sinclair erfuhr, dass sich die Kriminalisten damals einfach nicht erklären konnten, woher die zahlreichen Verletzungen stammten.
„Es war, als wäre er aus großer Höhe gefallen – als habe man ihn aus einem Flugzeug geworfen, oder etwas in der Art.“
Es gelang Sinclair, den damaligen Bewohner jenes Bauernhauses aufzuspüren, vor dem man Johnston gefunden hatte. Offenbar hatte die Polizei in ihrer Pressemitteilung genau jene Details unterschlagen, die ihre These ad absurdum geführt (und den Fall der Ebene rationaler Erklärungen enthoben) hätte: Durch geschlossene Türen und Fenster hindurch hatten der Bauer und seine Tochter einen lauten „Bums“ gehört, bevor sie den Unglücklichen fanden. Weit und breit habe es keine Erhöhung gegeben, von der er hätte gefallen sein können. Er habe nur noch ein grauenvolles Stöhnen von sich gegeben und sei dann verschieden. Auf Sinclairs Nachfrage erklärte der Herr, dass man nirgendwo im näheren Umfeld Kleidungsstücke des Toten fand – doch habe sein Sohn in einer Meile Entfernung am Straßenrand einen Kleiderstapel gesehen …
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