Editorial Ausgabe 86

Daniel Wagner EditorialLiebe Leser, neulich ist mich ein Bild angesprungen, das schon seit gut zwei Jahrzehnten in mir schlummert. Damals hatte ich mich in die Chaos­theorie eingegraben, die mich allein schon wegen ihrer eigentümlichen Begriffe magnetisiert hat: von seltsamen Attraktoren war da die Rede, von Grenzzyklen und Katastrophenfalten. Und über allem schwebte die Frage: Wie entsteht sie eigentlich, die Ordnung? Wie bilden sich in einer turbulenten, chaotischen Welt dauerhafte Strukturen?

Das Bild, das ich meine, lässt sich an einem Experiment veranschaulichen, bei dem man einen Topf erhitzt, dessen Boden mit Wasser bedeckt ist: Erwärmt man das Wasser nur moderat, bleibt es ruhig und glatt, also im Gleichgewicht, wie es heißt. Dreht man die Heizplatte nun aber weiter auf, wächst der Temperaturunterschied zwischen der oberen kalten und unteren warmen Schicht an – bis sich zufällig verteilte Wirbel bilden und das System kippt. Alles blubbert wild herum, bis der nächste Punkt erreicht ist. Und der ist wirklich merkwürdig: Plötzlich verlässt das System seinen chaotischen Zustand und nimmt eine neue Ordnung an – ein wabenförmiges Muster, das sich am Topfboden bildet, die sogenannten Bénard-Zellen.

Der Entdecker der „dissipativen Strukturen“, der Nobelpreisträger Ilya Prigogine, hat zig solcher Beispiele erforscht. So gibt es eine Gruppe chemischer Reaktionen, die sich, wenn sie einen kritischen Punkt erreichen, wie Uhren verhalten und tick, tack, tick die Farbe wechseln. Es gibt diese Strukturen einfach überall: bei Termitenbauten und Schleimpilzen, in Wirbeln, politischen Bewegungen, der Entwicklung von Sternen und Galaxien. Was Prigogine daran fasziniert, ist die spontane Selbstorganisation: Millionen von wie zufällig herumirrenden Informationseinheiten bewegen sich plötzlich so, als wäre jede Einheit über den gesamten Zustand des Systems informiert. Bis es aber so weit ist, bilden sich im aufgescheuchten System immer mehr Einzelzellen dieser neuen Ordnung – und mit einem Mal schlägt es um.

Mir fiel dieses Bild wieder ein, als ich mit Frau und Kind zu einem kleinen Abenteuer aufgebrochen bin: Anfang Oktober waren wir für eine Woche auf Schnupperkurs in einer Lebensgemeinschaft. Anziehend fand ich solche Orte schon immer, denn für mich steckt darin eine große Idee: Sind nicht diese Lebensinseln, in denen an Alternativen zum herrschenden System gebastelt wird, jene Inseln der neuen Ordnung? Bäckt man in diesen Keimzellen nicht schon an der Zukunft, die sich dann, dem Prinzip des Hundertsten Affen gemäß, ratzefatz im Kollektivbewusstsein ausbreitet? Nun, das Bild, das ich im Kern einer solchen Zelle gewonnen und Ihnen aufzuschreiben versucht habe, ist so vielschichtig und divergent, dass Sie den Text als ersten Ordnungsversuch eines Entdeckers betrachten sollten, der Neuland betritt.

Die Frage, wie eine neue, selbstorganisierte Ordnung aussehen kann, beschäftigt mich ja schon länger, nicht zuletzt, weil wir mit unserem Magazin seit jeher als Chaos­forscher unterwegs sind: stets an der sensiblen Grenzschicht zwischen alter und neuer Ordnung, während wir Impulse ins System einspeisen, die die bestehende hinterfragen und eine neue hervorbringen könnten.

Dass die womöglich gar nicht so neu ist, sondern wir von einem seltsamen Attraktor zyklisch immer wieder zu bestimmten Ordnungsmustern hingezogen werden, zeigen in diesem Heft gleich mehrere Artikel. Wie sonst soll man die Legenden der Hopi einordnen, in denen Schilde und Schiffe durch die Luft sausen und Hightech-Kriege mit Strahlenwaffen geführt werden? Oder nehmen Sie die Fleißarbeit Ian Lawtons, der anhand von Nahtoderfahrungen und Astralreisen eine eigene Karte des Jenseits erstellt hat. Ist die jetzt neu – oder deckt er nur auf, was zu Urzeiten Allgemeinwissen war?

Unser Leitartikel setzt dem noch eins drauf. Cristian Knopke behauptet nichts weniger, als die Funktionsweise einer archaischen Technologie entschlüsselt zu haben, die seit Jahrtausenden vor unser aller Augen in den Himmel ragt. Wenn er recht hat, brauchen wir sie nur nachbauen und hätten eine Maschine, die dauerhaft elektrischen Strom liefert. Meine Bitte: Wenn dort draußen aufgeschlossene Ingenieure und Fachleute sind, prüfen Sie die Aussagen des Autors, setzen Sie sich mit ihm in Verbindung – und halten Sie uns auf dem Laufenden.

Für den Systemwandel, der ja in vielen Gesellschaftsbereichen ansteht, ist ein Punkt prekär: der Zeitpunkt, an dem das Durcheinander kippt, die Bifurkation. An dieser hochsensiblen Gabelung, die durch die geringste Änderung – ein Photon, eine minimale Temperaturanhebung – ausgelöst werden kann, entscheidet sich nämlich, ob es zu einer neuen Ordnung kommt oder ob die gleich wieder in die Binsen geht. Erhitzen wir unseren Topf Wasser über den kritischen Punkt hinaus, sind die Bénard-Zellen gleich wieder futsch.

Entscheidend für die Stabilität des neuen Systems ist, ob es zu Rückkopplungen kommt, ob die Veränderungen mit dem umgebenden System verknüpft werden können – und dass wir die Suppe nicht zu heiß aufkochen.

Herzlich,

Ihr Daniel Wagner

Kommentare

02. Dezember 2019, 14:42 Uhr, permalink

R

Grüße aus der Küche!
kleineralsdrei

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