„Die Höllenschlünde der Dogmen werden sich auftun; es wird seismische Erschütterungen in der Wissenschaft geben.“
– Charles Fort
Zur Lektüre empfohlene Hintergrundmusik: „Explosions in the Sky – Live im Rockpalast“
Ich habe ihn mit eigenen Ohren gehört, den sogenannten „Wedding-Knall“.2 Es war im Frühjahr 2014, als die Bewohner im Norden Berlins wiederholt des Abends von einem mächtigen „Rums“ aufgestört wurden, dessen Ursache für allerlei Rätselraten sorgte. Zunächst dachte ich mir nichts dabei, wohnte ich doch einen Steinwurf vom Kraftwerk Moabit und dem benachbarten, rund um die Uhr aktiven Westhafen entfernt. Wird wohl von dort kommen – ja und? In Berlin ist man ganz andere Dinge gewohnt.
Doch Wochen später entnahm ich ungläubig den Zeitungen3, dass es den Experten und Behörden der Hauptstadt offenbar noch immer nicht gelungen war, die Ursache des unverändert auftretenden explosionsartigen Geräuschs ausfindig zu machen. Die Bezirksämter konnten mit keiner Erklärung aufwarten, die Verkehrsbetriebe verkündeten nach Prüfung „Wir knallen da nicht“, und die Polizei wies darauf hin, dass Knallen keine Straftat sei. Die absurdesten Theorien kursierten – von geheimen Technopartys bis zu Kriminellen, die sich auf dem Weg zum Banktresor einen unterirdischen Gang freisprengen. Auch die Warnungen vor heimlich unter der Hauptstadt errichteten DUMBs (unterirdischen Militärbasen) ließen nicht lange auf sich warten. Vermeintlich sinnvollere Lösungsansätze liefen jedoch ebenso ins Leere, da sie partout nicht zu den Tatsachen passen wollten. Überschallflugzeuge waren auszuschließen, und der gut gemeinte Vorschlag, es könnte sich doch einfach um so genannte „Polenböller“ gehandelt haben, rief in Internetforen – wo das Thema mittlerweile heiß diskutiert wurde – schallendes Gelächter hervor:
„Du musst dir diesen Knall 10 x lauter vorstellen, dann passt Dein lächerlicher Vogelschreckpolenböller! Glaub mir’s! Echt wie eine Explosion, kann ich nur sagen! Woher ich weiß, wie eine Explosion klingt? Ich habe mal eine Explosion von einem Lastwagen mit Gasfüllung bzw. Gaslastkraftwagen miterlebt. Dachte, ich wäre in Sarajevo damals!“ 4
Da eine Erklärung ausblieb und es weiterhin rumste, wurden bald auch nationale Medien aufmerksam. Sat.1 nahm sich der Sache im Frühstücksfernsehen an, ebenso berichteten RTL, n-tv, der Focus, die WELT, die FAZ und der SPIEGEL. „So viel Nicht-Zuständigkeit hat die Berliner Boulevardmedien auf den Plan gerufen“, schrieb dieser Anfang April,5 womit er sich auf das investigative Vorpreschen der Kollegen von BILD News bezog. Stolz hatten deren Reporter einen „Diplom-Ingenieur“ auf einem Balkon im Wedding postiert, der „extrem kompliziert aussehende Geräte aufbaut, mit denen er die Quelle genau bestimmen kann“. Gemeint war eine sogenannte akustische Kamera, mit der sich der Ursprung eines Geräuschs lokalisieren lässt. Tatsächlich habe man „ein tiefes, dumpfes Grollen irgendwann vernommen“ und anschließend „auf der Grafik gesehen, dass es ein ballförmiges Ding ist in verschiedenen Farben“.6
Dank BILD wusste Berlin nach der Auswertung zumindest, wo der Übeltäter sein schändliches Werk verübte: in der Jülicher Straße. Wer hätte das gedacht! Mitten im Wohngebiet. Durch gelegentliche Exkursionen zum dortigen Irish Pub mit den Örtlichkeiten vertraut, konnte ich mich den Erkenntnissen des Blatts nicht recht anschließen. „Das Gebiet ist so dicht bebaut und auch nachts belebt“, stellte ein Nutzer im AllMystery-Forum klar, „dass es total auffallen würde, wenn man oberirdisch einen La Bomba detonieren lassen würde.“
Globales Phänomen
Man schrieb den 3. April 2014, als die deutschen Medien das Thema großflächig aufgriffen und das Land darüber informierten, dass die Hauptstadt einen Knall hat. Endlich einige Recherchen anstellend, fiel ich fast vom Stuhl, als ich nur einen Tag später über eine Schlagzeile aus London stolperte: „Mysteriöse Explosionen erschüttern tief in der Nacht Häuser in Highgate und Muswell Hill.“ 7 Wie sich die Bilder glichen: Obwohl Anwohner bereits seit 18 Monaten über die Geräusche klagten – „manchmal hört man sie mehrmals die Woche, dann wieder eine Weile überhaupt nicht“ –, konnten weder die üblichen noch exotischere Verdächtige überführt werden. Eine Stadträtin sprach von einem „verblüffenden Mysterium“, für Betroffene druckte man die Nummer des örtlichen „Noise Teams“ ab. Jetzt erst kam ich auf die Idee, auf YouTube einmal „mystery boom“ einzutippen – und wurde von der Masse der Fundstellen regelrecht erschlagen. Größtenteils handelte es sich um Ausschnitte aus Nachrichtensendungen, die in verschiedenen Ecken der Vereinigten Staaten über den Bildschirm geflimmert waren und mindestens bis ins Jahr 2010 zurückreichten.8 Ähnliche Vorfälle wurden auch aus anderen Teilen der Welt berichtet. Verwundert ging ich nochmals sämtliche deutschsprachige Meldungen durch, die ich zum Thema konsultiert hatte: In keiner einzigen war der offenkundig globale Charakter des Phänomens auch nur erwähnt worden.
In Deutschland beschränkte sich der Knall, wie sich bald zeigte, keineswegs auf die Hauptstadt. Es waren jedoch nicht die Medien, sondern überwiegend Nutzer von Internetforen und -plattformen, die durch ihre Kommentare die Punkte verbanden. Das Bild, das sich auf diese Weise ergab, ließ sich etwa so zusammenfassen: Seit Jahren bereits knallte es überall im Land, wobei in vielen Fällen die „enorme Lautstärke“ sowie die Tatsache herausstachen, dass die Geräusche auch nach Monaten der Ursachensuche nicht erklärt werden konnten. Im Februar 2015 begab sich ein Blogger namens Ralf Heimann auf Spurensuche, nachdem ihn das Mysterium selbst ereilt hatte:
„Vor ein paar Tagen stand ich abends auf dem Balkon und suchte im Dunkeln nach den Überresten der Bombe, die unten im Garten explodiert sein musste. So hatte es sich jedenfalls angehört. Es war unglaublich laut. Wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel. Doch es war nichts zu sehen.“
Heimanns kleiner Chronologie zufolge, die im Januar 2013 in Emsdorf beginnt, reiste der ominöse Knall zunächst weiter nach Pinneberg und Bochum, bevor er sich im Frühjahr 2014 ausgiebig in Berlin tummelte. Noch im selben Jahr suchte er Stendal, Köln, Viersen, Münster, Lünen und Sylt heim. Anfang 2015 folgten Remscheid, Braunschweig, Wolfsburg und Göppingen. „Es ist natürlich möglich“, resümiert der Blogger, „dass die Knallgeräusche überall im Land ganz unterschiedliche Ursachen haben und es sich in Viersen zum Beispiel tatsächlich um eine unterirdische Techno-Party gehandelt hat, während in Braunschweig immer wieder Außerirdische enthusiastisch Böller in die Luft jagen. […] Wer weiß.“ 9
Im Oktober 2016 konstatierte zumindest die WELT das inzwischen Offensichtliche:
„Der Knall ist überall. Ob in Hamburg-Langenhorn oder in Chemnitz […], es gibt kaum noch einen Fleck auf der Landkarte, den er noch nicht abgeklappert hat. Sogar bis an den Rand des Sauerlands hat er sich vorgewagt. Ob als dumpfer Schlag oder lauter Knall, als Druckwelle oder KRAWUMM, er füllt ganze Knallprotokolle.“
Der Artikel verdient Beachtung, gelingt es der Autorin darin doch, einerseits keinen Zweifel an der Faktizität der Vorfälle zu lassen, sie gleichzeitig aber als Quatsch abzutun: „Und damit ist der Knall dort gelandet, wo er vermutlich auch hingehört: in die Abteilung ‚urbane Legenden‘.“ Orwell bezeichnete diese erstaunliche Fähigkeit einst als „Doppeldenk“. Menschen, die – anstelle von Journalisten – festhalten, wann, wo und in welcher Lautstärke es knallt, werden im Artikel als „besonders gewissenhafte Bürger“ bezeichnet. Außerdem sei der Knall „ausgebufft“, da er sich über Facebook „vermarkten“ würde – eine Anspielung auf die Seite @dermysterioeseknall, auf der Berichte zum Thema gesammelt und diskutiert werden.10
Die Knallerei indes setzte ihre Deutschlandtour unbeeindruckt fort. Nur wenige Tage nach Erscheinen des WELT-Artikels titelte eine Lokalredaktion in Nordrhein-Westfalen: „Bielefeld rätselt über den mysteriösen Knall in der Nacht.“ Bereits im Februar hätten engagierte Anwohner versucht, der wiederholten Ruhestörung auf den Grund zu gehen:
„Schüsse? Eine Explosion? Dumme Jungen? Thesen gab es viele. Eine Antwort gab es nie. Doch die Ursache für das Knallphänomen war nicht zu ergründen. Jetzt ist es in Milse wieder aufgetaucht.“ 11
Seitenweise ließen sich ähnliche Meldungen aneinanderreihen, die allesamt derselben Schablone entsprungen zu sein scheinen.
Während sich nun viele der weltweit berichteten Knalle tatsächlich auf profane Ursachen zurückführen lassen – Überschallflugzeuge, technisches Versagen in Fabrikanlagen, seltene meteorologische Konstellationen usw. –, wird die Liste der Vorfälle, die sich beharrlich der Aufklärung entziehen, Jahr für Jahr länger. Verbirgt sich hinter dem Phänomen möglicherweise ein echtes Mysterium? Wie bei UAPs (unidentifizierten Luftraumphänomenen), Kornkreisen, Begegnungen mit nichtmenschlichen Wesenheiten und mysteriösen Vermisstenfällen (die Liste ließe sich fortsetzen) gewinnt man den Eindruck, dass sich die Seltsamkeiten mit der Zeit nicht etwa in Wohlgefallen auflösen, sondern immer deutlicher herauskristallisieren.
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