Die neuen Wahrheitsministerien: Wikipedia, künstliche Intelligenz und digitale Propaganda

wahrheitsministerienErinnern Sie sich noch, wie Sie Ihren ersten Rechner angeschmissen oder die erste E-Mail versendet haben? 30 Jahre später leben wir im digitalen Zeitalter, und die Konzerne, die mit der  Technikrevolution groß geworden sind, basteln an einer Welt, in der ein Großteil unseres Lebens von Maschinen und Algorithmen bestimmt wird.

Das gilt auch für die Auswahl von Nachrichten und die Frage, welche Informationen es wert sind, auf die Welt losgelassen zu werden. Ein Blick hinter die Kulissen der Medienkonzerne zeigt: Auch hier ist schon alles vernetzt. Das an sich wäre ja nicht verwerflich, würde sich Big Tech nicht als Hüter der Wahrheit aufspielen. Ein warnender Entflechtungsversuch.

Zu sagen, wir würden in orwellschen Zeiten leben, gilt inzwischen als Klischee – vor allem wohl deshalb, weil das Bild so treffend ist. Georg Orwells Konzept eines Wahrheitsministeriums beispielsweise, das sich in Teilen auf seine beruflichen Erfahrungen bei der BBC stützte, hat sich mehr als bewährt.1 Vor vielen Jahrzehnten war Amerikas Hüter der Wahrheit ein Medienmonopol mit liberaler (aber nicht linker) Ausrichtung.2,3

Mit dem Aufstieg von Rupert Murdoch und Fox kam ein Konkurrent aus dem rechten Spektrum ins Spiel, wodurch das entstand, was in der Geschäftswelt als Produktdifferenzierung bezeichnet wird. Im Automobilbereich wäre das so, als würden zwei Anbieter Produkte mit minimalen Unterschieden herstellen und den Verbrauchern so die Illusion geben, eine Wahlmöglichkeit zu haben (Psychologen sprechen von bounded choice ,„eingeschränkter Auswahl“).4,5

Wenn es um die Medien geht, bleibt den Verbrauchern die „Wahl“ zwischen zwei Perspektiven, die beide hinter dem Amerika der Konzerne stehen. Der Rolling-Stone-Reporter Matt Taibbi prägte den Ausdruck „Hate Inc.“: eine Rechte, die Liberale hasst, und Liberale, die die Rechten hassen.6 Beide verfolgen jedoch im Großen und Ganzen die gleichen wirtschaftlichen und imperialistischen Ziele.

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Aber hat sich das nicht alles mit dem Internet verändert? Haben wir jetzt nicht eine viel größere Auswahl? Bis zu einem gewissen Grad, ja. Doch wie der Name schon sagt, wurde mit der Erfindung des Internets ein Netz geschaffen, in dem die Fäden scheinbar unverbundener Medien häufig an denselben Quellen zusammenlaufen und arglose Nutzer in das ewig gleiche Paradigma verstricken. Die zehn beliebtesten Nachrichtenwebsites weltweit sind die der folgenden Medien bzw. Medienunternehmen: New York Times, Washington Post, Wall Street Journal, Game Informer, Financial Times, The Athletic, Guardian, Nikkei, Economist und Caixin.7 Diese Liste lässt kaum einen Bruch mit dem neoliberalen Status quo erkennen.

Überlegen Sie einmal, wie viele „alternative“ Websites in Wirklichkeit mit den Mainstream-Medienkonzernen verbunden sind. The Daily Beast, gegründet von Lady Evans CBE (Tina Brown), Redakteurin bei der Vanity Fair und dem New Yorker, ist im Besitz der IAC/InterActiveCorp, zu deren mehr als 150 Marken auch CollegeHumor.com, Daily Burn und Vimeo gehören.8 Die Huffington Post wurde von Republikanern als „linke“ Alternative zum Drudge Report gegründet, bevor sie 2011 in den Besitz von AOL überging – 2015 wurde AOL dann über die Oath Inc. von Verizon übernommen, woraufhin die Huffington Post an BuzzFeed verkauft wurde.9 Politico wurde von zwei ehemaligen Angestellten der Washington Post aus der Taufe gehoben, und einer der Mitarbeiter des Politico Magazine ist der ehemalige CIA-Agent Alex Finley.10

Slate war ursprünglich ein Ableger von Microsofts MSN. Die Gründer von BuzzFeed, Jonah Peretti und John S. Johnson, warben Ben Smith von Politico ab und finanzierten ihr Unternehmen mit dem Geld von Kenneth Lerer von der Huffington Post, an die BuzzFeed, wie bereits erwähnt, später überging. Vice Media wird zum Teil vom kanadischen Steuerzahler finanziert und hat Videoproduktionsverträge mit HBO, Intel, YouTube und Viacom abgeschlossen.11,12

Und wie ist die Wikipedia in dieses Netz eingebunden?

Algorithmen der Unterdrückung

Die englische Wikipedia verzeichnet täglich über 200 Millionen Aufrufe.13 Woher kommt der ganze Datenverkehr? Dazu müssen wir uns mit Google und dessen Dachgesellschaft Alphabet beschäftigen, die mit 3,8 Millionen Besuchen pro Minute einen Anteil von 90 Prozent am Suchmaschinenmarkt haben.14 Im Jahr 2016 flossen 85 Cent von jedem Dollar im Marketingbereich an Facebook und Google bzw. Alphabet. Diese besaß in den USA 83 Prozent Marktanteile an den mobilen Suchmaschinen und fast 63 Prozent an den mobilen Betriebssystemen. 55 Prozent des Audio- und Video-Streaming-Contents werden von Googles YouTube bereitgestellt, jedoch landen nur elf Prozent der Einnahmen bei den Urhebern der Inhalte.15

Die Forscher Seth Lewis und Efrat Nechushtai führten eine Studie durch, im Zuge derer sie feststellten, dass

„die [Google-]Suchergebnisse stark von den etablierten Nachrichtenorganisationen dominiert werden“. Sie merkten an, dass „von allen Google-News-Empfehlungen, die [sie] zusammentrugen, ganze 49 Prozent […] auf nur fünf nationale Nachrichtenorganisationen zurückzuführen waren: die New York Times, CNN, Politico, die Washington Post und die HuffPost“.16

Im Jahr 2017 setzte Google, das gemeinsam mit YouTube zu Alphabet gehört, über sein Project Owl Unterdrückungsalgorithmen („Fred“)17 ein, um unter dem Vorwand, Klickfang, Spam und „Fake News“ zu unterbinden, die Aufmerksamkeit der User von linken Medien wegzulenken. Zu den betroffenen Websites gehörten AlterNet.org, CounterPunch.org, Truthout.org und andere Informationsquellen, die sich für die Arbeiterklasse und gegen den Krieg aussprechen.18,19

Aber auch politisch rechts orientierte Medien erfuhren derartige Unterdrückung. Was dem einen als Randmeinung erscheinen mag, ist für den anderen das Evangelium. Für wen muss Google sich halten, dass das Unternehmen den eigenen Mitarbeitern das Recht einräumt zu entscheiden, was als unwichtig gilt und damit keine Sichtbarkeit verdient? Jedenfalls bewertet das Google-Team Websites anhand eines Rankings, das „die Kanäle anhand ihrer Qualität unmittelbar einordnet“. Rupert Murdochs Wall Street Journal (WSJ) rangiert mit einer Punktzahl von 8,53 (Qualität) an oberster Stelle, während der Alex-Jones-Kanal mit einer Punktzahl von −1,56 (Trash) das Schlusslicht bildet. Ein ehrliches Rankingsystem würde Fakten und Unwahrheiten beider Medienorganisationen aufzeigen. Die sieben am höchsten bewerteten Websites sind die des WSJ sowie von ABC, PBS, CBS, Associated Press, CNN und MSNBC, die jeweils zwischen 5,37 und 8,07 Punkten erhielten. Murdochs Fox landete bei 5,20 Punkten, direkt gefolgt von RT America und Breitbart.20

Zu den Termini, die von Google als „grenzwertige Suchanfragen“ gekennzeichnet werden, gehören etwa „Wer hat JFK erschossen?“, „Beweise, dass die Erde flach ist“, „Verursachen Impfstoffe Autismus?“ oder „Gibt es den Klimawandel wirklich?“ Mit diesem „Strafraum“ für die Verbreitung und Produktion angeblich hasserfüllter Inhalte behandelt Google seine Nutzer wie kleine Kinder. Zu den sogenannten „Themen mit Bezug zu Verschwörungen und Fake News“ gehört auch „Vakzine: die Wahrheit hinter Impfstoffen“. Passt es da nicht ins Bild, dass Google selbst ein finanzielles Interesse an den Pharmariesen hegt?21 Im Jahr 2016 schloss sich die Muttergesellschaft Alphabet mit dem britischen Pharmakonzern GlaxoSmithKline zusammen, um Verily zu gründen, ein neues Unternehmen für Biowissenschaften.22

Und hier schließt sich der Kreis zur Wikipedia, denn die von Google geförderte Enzyklopädie normalisiert Interessenskonflikte, indem sie den Eindruck eines unvoreingenommenen Lexikons erweckt, während sie zugleich über die Wikimedia Foundation Förderungen von Pharmariesen wie Bristol-Myers Squibb und Merck erhält, Rüstungsunternehmen (BAE und Boeing), Ölkonzernen (BP, Exxon) und Banken (Goldman Sachs, J. P. Morgan).23

Wikipedia hat beispielsweise die rechtsgerichtete Daily Mail bereits als unzuverlässige Quelle aussortiert. Als Donald Trump sich Ende 2020 zur Wiederwahl stellte, gingen die Technologieriesen mit den Rechten weniger subtil um, als sich nur der üblichen Unterdrückungsalgorithmen und Rankingsysteme zu bedienen. Sie löschten zahlreiche ihrer Accounts – nicht selten auf Druck der US-Geheimdienste, die in der Trump-Bewegung ein Einmischen Russlands in die US-Wahlen vermuteten.24 Dieses Vorgehen konnte dem „Hass“ natürlich nicht wie geplant entgegenwirken, denn viele Betroffene wechselten einfach von Anbietern wie Twitter und YouTube zu alternativen Plattformen wie Telegram und Bitchute.25,26 Schon im Vorfeld dieser Entwicklungen gab es Beschwerden über YouTubes „großes Deplatforming“.

Im Jahr 2011 gehörten auch die Google-Mitbegründer Larry Page und Sergey Brin zu den Spendern der Wikimedia Foundation, der die Wikipedia gehört.27 Wenn man via Google nach einem bestimmten Schlagwort sucht, rangiert der Wikipedia-Eintrag in der Regel unter den ersten drei Ergebnissen, zusammen mit einem Artikel aus den Mainstreammedien und einer spezifischen Website, sofern eine solche existiert. Das ist eine einflussreiche Echokammer: Ein Techriese (Google) lenkt die Internetnutzer weg von Inhalten, die seine Programmierer für unzuträglich halten (Unterdrückung), und hin zu „anerkannten“ Websites (Ranking).

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