Die ketogene Diät - ein kritischer Blick

Es kursieren unzählige Ernährung­svorschriften, um Krebs und anderen Zivilisationskrankheiten entgegenzuwirken. Als neuester Trend wird die ketogene Diät gehandelt, die auf einem kohlenhydratarmen, fettreichen Speiseplan basiert. So neu ist ihr Konzept allerdings gar nicht, und beim genauen Hinsehen offenbart auch die ketogene Kost ihre Tücken. Eine Bestandsaufnahme.

Die traditionelle Atkins-Diät hatte zweifellos einen hohen Fettanteil –im Bereich von 70 Prozent und mehr –, der fast ausschließlich aus tierischen Quellen stammte, und enthielt nur wenig Kohlenhydrate (unter zehn Prozent). Dr. Atkins, der in seinen frühen Jahren als Ernährungsmediziner bekanntermaßen die Ketose mit Nachdruck vertrat, beharrte darauf, dass seine Patienten mehrmals am Tag routinemäßig den Ketonspiegel in ihrem Urin überprüfen und spezielle Ketonteststreifen verwenden sollten. In seinen Büchern und im Sprechzimmer vor seinen eigenen Patienten warnte Dr. Atkins, dass man, um die Früchte der Diät ernten zu können, den Zustand der Ketose erreichen und beibehalten müsse – ganz wie die traditionellen Eskimos. Schon die geringste Abweichung von der Diät, eine unkluge Schummelei mit einem Plätzchen oder einer Süßigkeit, würde eine Ketose verhindern, und damit den Nutzen der Diät.

Ich kannte Bob ziemlich gutund sah ihn als Freund an. Wir trafen uns zum ersten Mal, als ich ihn im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit für einen Artikel zum Thema Ernährung interviewte. Wir blieben in engem Kontakt, als ich ein Medizinstudent war. In meinem ersten Jahr an der Cornell Medical School – an der auch Bob seinen Abschluss gemacht hatte – lud ich ihn eines Tages im Rahmen einer von mir organisierten Vortragsreihe zu alternativen Heilungsansätzen als Redner ein.

Nachdem ich mein Stipendium in konventioneller Immunologie unter Dr. Good abgeschlossen hatte, bot Bob mir 1987 liebenswürdigerweise einen Job in seiner Klinik an. Ich sollte nicht mit Patienten arbeiten, die ihn wegen spezifischer oder allgemeiner Ernährungsfragen aufsuchten, sondern eine Krebsstation leiten, die er zu dieser Zeit aufbaute. Obwohl ich dankbar für sein Angebot war, lehnte ich ab, denn ich hatte mich bereits entschlossen, eine eigene Praxis zu gründen.

Bob hatte als Ernährungsmediziner großen Erfolg; zumZeitpunkt seines Todes im Jahr 2003 wurde sein Vermögen auf 350 Millionen Dollar geschätzt. Er war zudem ein sehr ambitionierter und hochintelligenter Arzt, der die ultimative Herausforderung der Medizin ganz klar im Kampf gegen Krebs sah, nicht gegen Fettleibigkeit. Bob, der Stefanssons Arbeit gut kannte, erklärte mir bei mehr als einem unserer gemeinsamen Abendessen gegen Ende der 1980er, dass die ketogene Diät möglicherweise die entscheidende Lösung für Krebs darstellen könne. Wie Donaldson und Stefansson vor ihm dachte er, dass sich alle Menschen nur ketogen ernähren müssten, um ein für alle Mal den idealen Gesundheitszustand zu erreichen. Aber hatten sie Recht? Oder gab es noch eine andere, möglicherweise zutreffendere Antwort auf die Frage nach der richtigen menschlichen Ernährung?

Gegenstimmen zum ketogenen Ansatz

Obgleich Bob Atkins fest von seiner fettreichen ketogenen Diät überzeugt war, wusste ich mittlerweile, dass andere genau den gegensätzlichen Standpunkt einnahmen. Nathan Pritikin zum Beispiel, den ich, wie Bob, persönlich kannte und der ebenfalls nach Cornell kam, um Vorträge zu halten. Pritikin glaubte, und das mit fanatischer Überzeugung, dass alle Menschen genetisch und metabolisch auf eine sehr fettarme Diät mit hohem Kohlenhydratanteil programmiert seien, die ausschließlich auf Pflanzen basiert. Befolge man diese sorgfältig, könne sie uns vor allen degenerativen tödlichen Krankheiten wie Diabetes, Herzkrankheit oder Bluthochdruck schützen – und möglicherweise sogar vor Krebs. Die traditionelle Pritikin-Diät war buchstäblich ein Spiegelbild der Atkins-Diät: etwa 70–75 Prozent aller Kalorien stammten aus Kohlenhydraten und 15–20 Prozent aus Protein, alles aus pflanzlichen Quellen; acht Prozent oder weniger aus wiederum rein pflanzlichem Fett. Nach Pritikins Tod im Jahr 1985 griff Dr. Dean Ornish aus San Francisco den Pritikin’schen Ansatz auf und testete schließlich eine ähnliche Diät an Patienten, die unter Herzkrankheiten litten, sowie bei Patienten mit Prostatakrebs.

ornishpritikin

Die Ernährungswelt war sicherlich damals wie heute verwirrend; voll von verschiedenen Wissenschaftlern, Ärzten und Laien-Autoren, die mal die eine, mal die andere Diät predigten und häufig – wie im Falle Atkins und Pritikin – völlig gegensätzliche diätetische Empfehlungen aussprachen. Glücklicherweise hatte ich 1987, als Dr. Atkins mir einen Job anbot, bereits etwas gefunden, was ich für eine Lösung für das Dilemma der sich duellierenden diätetischen Dogmen hielt. Schon vor Beginn meiner medizinischen Ausbildung im Jahr 1979 hatte ich nämlich die bahnbrechende Arbeit von Weston A. Price gelesen, dem amerikanischen Zahnarzt und Forscher. Seit Ende der 1920er Jahre hatte Dr. Price gemeinsam mit seiner Frau sieben Jahre lang die Welt bereist und isolierte Bevölkerungsgruppen begutachtet, die nach althergebrachter Tradition lebten und aßen. Heute wäre solch eine Studie unmöglich, da fast überall jedermann die „westliche“ Lebens- und Ernährungsweise angenommen hat, von Jeans bis Junkfood. Aber zur Zeit von Dr. Price gab es noch viele Gruppen an verschiedenen Orten der Welt, die nach wie vor traditionsgemäß lebten und im Großen und Ganzen unberührt vom modernen westlichen Einfluss geblieben waren. Dr. Prices Reisen führten ihn von den Eskimos der Arktis zu den Nachkommen der Inkas in den hohen Anden, den Masais auf den Ebenen von Kenia, zu abgeschiedenen schweizer Berghirten in den alpinen Gebirgstälern und den Polynesiern, die auf unberührten tropischen Inseln lebten.

Jede der Gruppen, die Dr. Price studierte, schien sich gut an die naturgegebene Nahrungsmittelversorgung angepasst zu haben. Wie Stefansson schon früher berichtet hatte und Price bestätigte, kamen die Eskimos wunderbar mit ihrer fettreichen, kohlenhydratfreien Fleischkost zurecht. Die Nachkommen der Inka andererseits lebten ziemlich gut, indem sie Pseudogetreide wie Quinoa aßen, dazu Knollen, Früchte, ein wenig tierisches Protein und Milchprodukten. Die Masais gediehen bei einer reichlich extremen Diät, die für erwachsene Krieger aus einer Gallone ungekochter Milch am Tag bestand, etwas Blut und gelegentlich Fleisch, aber keine Früchte, Gemüse, Nüsse, Samen oder Körner beinhaltete. Den schweizer Viehhirten ging es prächtig, indem sie die rohe Milch grasender Kühe tranken und Käse aßen, zusammen mit nährstoffreichem Vollkornbrot. Im Zentrum der polynesischen Diät wiederum standen die Kokosnuss und ihre Produkte: die Milch, das Fleisch und die Sahne, die kreativ und vielfältig verwendet wurden, zusammen mit Fisch, etwas Fleisch von wilden Tieren und Früchten.

Diese Ernährungsweisen konnten unterschiedlicher nicht sein: Ein Eskimo trank niemals Milch oder aß eine Kokosnuss, die Inka-Nachkommen bekamen nie eine Kokosnuss oder Walfischtran zu Gesicht, ein Masai aß nie eine Kokosnuss oder Getreide, die Polynesier nie Körner oder Käse und tranken nie Milch.

Egal, wie unterschiedlichdiese Diäten sein mochten: Jede dieser Gruppen und der anderen, von Price untersuchten traditionellen Volksstämme erfreute sich ausgezeichneter, anhaltender Gesundheit. Sie kannten keine Zivilisationsleiden wie Krebs, Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck. In seinem außergewöhnlichen und sehr ausführlichen Buch mit dem Titel „Nutrition and Physical Degeneration“ (Price-Pottenger Nutrition Foundation, 1939) dokumentierte Dr. Price seine These, dass wir Menschen uns über tausende von Jahren nicht an nur eine einzige Ernährungsweise angepasst und diese beibehalten haben, sondern an eine große Bandbreite unterschiedlicher Diäten.

Natürlich gab es auch einige Gemeinsamkeiten in den Ernährungsstilen: Alle diese traditionellen Völker aßen einige Tierprodukte und nahmen eine angemessene Menge Fett zu sich, die entweder aus pflanzlichen oder tierischen Quellen stammten. Sämtliche Nahrung wurde selbstverständlich vor Ort angebaut und auch dort geerntet oder eben gejagt, da diese isolierten Gruppen keinen Zugang zur industrialisierten Nahrung der modernen „Zivilisation“ hatten. Die Nahrung musste lokal sein. Und alle diese Gruppen konsumierten etwas Nahrung in ihrer rohen, ungekochten Form, der sie einen besonderen Nährwert beimaßen.

Ich hatte Dr. Prices Buch erstmals während meiner Journalistentätigkeit gelesen und wusste daher aus seiner umfangreichen Arbeit, dass die Menschen eine vielfältige Spezies darstellen, die sich in der Vergangenheit mit Ausnahme der Antarktis an alle ökologischen Nischen und die dort vorhandene Vielzahl an Nahrungsquellen angepasst hatte. Für mein Dafürhalten bot seine Arbeit eine Lösung für die kontroversen diätetischen Ratschläge, die schon zu seiner Zeit durch die Welt geisterten. Es machte keinen Sinn, wie Nathan Pritikin darauf zu beharren oder wie Bob Atkins zu argumentieren, dass alle Menschen einer bestimmten Diät zu folgen hätten: Zumindest für mich schien es einfach nicht stimmig.

Kommentare

27. Januar 2019, 11:11 Uhr, permalink

Pat Buchtmann

Vielen Dank für den interessanten Artikel. Allerdings kann ich den vollständigen Namen des Autoren nicht finden (Dr Gonzalez?) oder Referenzen zu den im Artikel erwähnten Studien bzw. Literatur

27. Januar 2019, 11:16 Uhr, permalink

ein Redaktionsmitarbeiter

@Pat Buchtmann
hier gelangen Sie zur Autorenseite von Dr. Nicholas J. Gonzales mit weiteren Informationen: www.nexus-magazin.de/artikel/autor/dr-nicholas-j-gonzalez
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