Wir speichern auch eine bestimmte Menge Zucker als Glykogen, das sich in der Leber und in den Muskeln findet und gebildet wird, wenn Glukosemoleküle sich miteinander zu komplexen Ketten verbinden. In Notzeiten und wenn keine diätetischen Kohlenhydrate zur Verfügung stehen, können unsere Leber und die Muskelzellen Glykogen in Glukose aufbrechen, damit diese in den Blutstrom freigesetzt wird. Unsere Leberzellen können auch, wenn notwendig, bestimmte Aminosäuren wie Alanin in Glukose umwandeln.
Unsere Glykogen-Vorräte in der Leber und im Muskel sind jedoch ziemlich begrenztund bieten nur eine Notversorgung für acht bis zwölf Stunden. Während einer Fastenkur, beim Hungern oder auf einer kohlenhydratfreien Diät gehen uns die Glykogen-Vorräte schnell aus. In dieser Situation beginnen unsere Fettzellen, die Adipozyten, durch verschiedene neurale und hormonelle Signalvorgänge freie Fettsäuren in den Blutstrom freizusetzen. Diese Fettsäuren können dann wiederum von unseren Zellen im alternativen ATP-Produktionsprozess der Betaoxidation verwendet werden. Das Endprodukt dieser Reaktionsreihe, Acetyl-Coenzym A, kann dann in den Zitronensäurezyklus und in die Elektronentransportkette geleitet werden, um maximale Mengen energiereichen ATPs zu produzieren.
Die meisten unserer Zellen können zwar sämtliche Fettsäuren via Betaoxidation verwenden, um daraus ATP-Energie zu erzeugen, aber unser Zentralnervensystemist dabei ein wenig im Hintertreffen. Die langkettigen Fettsäuren mit 14 oder mehr C-Atomen, mit denen die größte Menge ATP aus der Betaoxidation gewonnen werden kann, können nämlich die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Bei länger andauerndem diätetischen Kohlenhydratmangel beginnt die Leber jedoch, Acetyl-Coenzym A in verschiedene Ketonkörper umzuwandeln, wie Acetoacetat und Hydroxyl-Betabuttersäure, die leicht ins Gehirn vordringen und die, wie Acetyl-Coenzym A, in den Zitronensäurezyklus und dann in die Elektronentransportkette geleitet werden können, um das Gehirn mit ATP zu versorgen.
Bei einer kohlenhydratarmen oder -freien Diät schalten die Milliarden Zellen in allen unseren Geweben und Organen also ihre Energiemechanik um: von einem Prozess, der auf Glukose basiert, auf einen, der durch Fettsäuren und Ketonkörper angetrieben wird. Die Bezeichnung „Ketose“ meint einfach den Zustand, in dem unsere Leber aufgrund von Glukosemangel Ketone aus Acetyl-Coenzym A synthetisiert. Allerdingsverbrauchen wir sogar auf einer kohlenhydratfreien, rein fleischlichen und fettreichen Diät immer noch etwas Glukose,die in Form von Glykogen in Muskeln und Organen gespeichert ist, und unsere Leber wird weiterhin einige diätetische Aminosäuren in Glukose umwandeln. Daher wird also der Blutzuckerspiegel bei einer solchen Diät niemals ganz auf Null sinken. Die produzierten Mengen sind in solchen Fällen aber minimal.
Obwohl unsere normalen Zellen ohne Kohlenhydratzufuhr kein Problem haben, gelte dies nicht für Krebszellen, so Dr. Seyfried. Diese Zellen könnten Fettsäuren oder Ketonkörper niemals für irgendeine signifikante Energieproduktion benutzen, da der Zitronensäurezyklus und der Elektronentransport in ihnen im Grunde inaktiv seien. Als Höhepunkt seiner Exegese postuliert er daher, dass eine fettreiche, kohlenhydratfreie Diät mit mäßiger Proteinzufuhr die tödlich-abnormalen Krebszellen ihrer einzigen Energiequelle beraube, nämlich der Blutglukose, und dies führe zum Zelltod, der sogenannten Apoptose. So einfach ist das. Kein diätetischer Zucker, kein Krebs. Die dahinterstehende Wissenschaft ist beeindruckend, und der Folgeschluss erscheint vielen als außerordentlich vielversprechend. Aberist diese ketogene Diät wirklich eine „neue“ Idee?Oder handelt es sich nur um eine alte, die fürs 21. Jahrhundert noch einmal neu verpackt wurde? Und kann uns die Geschichte etwas über ihre Wirksamkeit gegen Krebs oder irgendeine andere Krankheit lehren?
Die ketogene Diät – keine Erfindung der Moderne
Verschiedene Wissenschaftler haben schon lange vor Dr. Seyfried den Wert einer ketogenen Diät für alle möglichen menschlichen Krankheitszustände postuliert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Ärzte und Forscher, die die traditionelle Kultur der Eskimos (Inuit) studierten, fasziniert von der Gesundheit dieser Menschen, die sich von sehr eigentümlicher, fettreicher, ketogener Kost ernährten – eigentümlich zumindest für den westlichen akademischen Verstand. Der berühmte Arktisforscher Stefansson dokumentierte als erster die traditionelle Eskimodiät, die später eingehend in den frühen 1930er Jahren von einem Forscherteam der McGill-Universität in Montreal untersucht wurde.
In einer Zeit, zu der kein westlicher Wissenschaftler glaubte, dass der Mensch allein von Fleisch leben könnte, waren die Forscher überrascht, dass die Eskimodiät buchstäblich zu 100 Prozent aus Tierprodukten bestand. 80 Prozent davon nahmen sie in Form von größtenteils gesättigtem Fett zu sich und 20 Prozent in Form von Proteinen, jedoch enthielt die Diät so gut wie keine Kohlenhydrate.Von der Wiege bis zum Grab lebten diese traditionellen Eskimos in einem Zustand der Ketose.
Im Rückblick macht es Sinn, dass sich die Eskimos in der Arktis aus Überlebensgründen an eine fettreiche Diät mit gemäßigter Proteinzufuhr und keinen Kohlenhydraten angepasst haben. Mit dem kurzen Sommer und in Ermangelung an Böden, die für Getreidezucht geeignet wären, bietet die Region nicht genügend Pflanzennahrung für den menschlichen Verzehr, dafür aber reichlich tierische Nahrung, sowohl auf dem Land wie auch im Meer. Wenn die Eskimos sich diesen Nahrungsverhältnissen nicht angepasst hätten, dann wären sie in einem solch schwierigen, extremen Teil der Welt schlicht ausgestorben. Stefansson, der die Eskimos zehn Jahre lang studiert und mit ihnen gelebt hatte, wies darauf hin, dass sie sich interessanterweise bewusst waren, dass ihre reine Fleischdiät fettreich sein muss und nicht allzu viel Protein enthalten darf. Sie warnten davor, dass eine Diät, die nicht genügend Fett enthält (oder, wie es im westlichen Wissenschaftsjargon heißen würde: eine Diät mit hohem Proteinanteil), zu Krankheit und schließlich zum Tod führen würde.
Wie Stefansson und andere Wissenschaftler nach ihm herausfanden,schienen die Eskimos, die sich fettreich, also ketogen ernährten, unter keiner der üblichen degenerativen Krankheitenzu leiden – einschließlich Krebs- und Herzkrankheiten, die in der westlichen Welt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bereits steil zunahmen. 1960 schrieb Stefansson – der inzwischen durch seine Abenteuer in entlegenen Gegenden ziemliche Berühmtheit erlangt hatte – ein Buch mit dem Titel „Cancer: Disease of Civilization?“ (Hill and Wang, 1960), in dem er behauptete, dass man mit einer typischen Eskimodiät vor der schrecklichen Krankheit Krebs gefeit wäre. In einer ganzen Reihe von Bestsellern vertrat Stefansson den Standpunkt, dass wir alle wie die Eskimos leben und auf eine fettreiche Diät mit gemäßigtem Proteinanteil und ohne Kohlenhydrate umstellen sollten – das heißt, wenn wir bei bester, anhaltender Gesundheit bleiben wollten.
Blake Donaldson, MD, der jahrzehntelang eine allgemeinärztliche Praxis auf Long Island, New York, führte, begann in den 1920er Jahren eine ketogene Diät zu verschreiben. Donaldson, der sich eingehend mit Stefanssons Berichten über die Eskimodiät beschäftigt hatte, empfahl dabei die rein auf Fleisch und viel Fett beruhende Diät vor allem Patienten, die unter Beschwerden wie Fettleibigkeit, Diabetes und Herzkrankheiten litten. Krebs schien bei ihm nicht im Mittelpunkt zu stehen. In seinem Buch „Strong Medicine“ (Doubleday, 1961) fasste Dr. Donaldson seine Entdeckungen und seine langjährige Erfahrung mit einer fettreichen Diät zusammen.
In jüngerer Zeit machte dann derberühmte New Yorker Ernährungsmediziner Robert Atkins die ketogene Diät populär, undzwar nicht als Maßnahme gegen Krebs, sondern als ultimativen Weg zur Gewichtsreduktion. Seine Bücher verkauften sich jahrzehntelang insgesamt weit mehr als zehn Millionen Mal. Von der Erstausgabe der „Diet Revolution“ (D. McKay Co, 1972) gingen zeitweise mehr als 100.000 Exemplaren pro Woche über den Ladentisch – zu jener Zeit ein Rekord in der Verlagsgeschichte der Vereinigten Staaten. Im Laufe der Jahre begann Dr. Atkins, ein ausgebildeter Kardiologe, in der ketogenen Diät die Antwort auf viele Probleme der westlichen Zivilisation zu sehen – angefangen von Übergewicht, über Herzkrankheiten, Diabetes und Bluthochdruck bis hin zu Krebs.
Kommentare
27. Januar 2019, 11:11 Uhr, permalink
Pat Buchtmann
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Allerdings kann ich den vollständigen Namen des Autoren nicht finden (Dr Gonzalez?) oder Referenzen zu den im Artikel erwähnten Studien bzw. Literatur
27. Januar 2019, 11:16 Uhr, permalink
ein Redaktionsmitarbeiter
@Pat Buchtmann
hier gelangen Sie zur Autorenseite von Dr. Nicholas J. Gonzales mit weiteren Informationen: www.nexus-magazin.de/artikel/autor/dr-nicholas-j-gonzalez
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