Die Funktion der Großen Pyramide
Die um 2600 vor Christus errichtete Große Pyramide gilt unter den drei auf dem Gizehplateau errichteten Pyramiden als die älteste. Sie wird auch heute noch gerne als das Grabmal des ägyptischen Pharaos Chufu bzw. Cheops bezeichnet. Einen der ersten Berichte über die Pyramide verfasste der griechische Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, also gut 2.000 Jahre nach ihrer Errichtung. Aufgrund von Erzählungen beschrieb er nicht nur ihren Bau, sondern auch ihre Rolle als Grabmal.
Doch der im 1. Jahrhundert v. Chr. auf Sizilien lebende Geschichtsschreiber Diodor hatte bereits eine andere Sicht. Er sah die Gefahr einer Entdeckung des Pharaonengrabes in der Pyramide und beschrieb sie deshalb als Kenotaph, als leeres Grabmal, das an den Pharao erinnern sollte. Spätere Schilderungen zeigen, dass diese frühen Schriften zum Zweck der Pyramide bald in Vergessenheit gerieten, denn bereits in der Antike entstanden Theorien, dass das Bauwerk in Wirklichkeit ein Kornspeicher war. Gestützt wurden diese Vermutungen durch das griechische Wortpyros,das Weizen bedeutet. Obwohl es im arabischen Raum bereits andere Erklärungen gab, hielt sich in Europa diese Theorie noch bis in die Neuzeit.
Im 12. Jahrhundert erzählte der arabische Schriftsteller Abd ar-Rahim al-Kaisi zum ersten Mal wieder von der Großen Pyramide als einer Begräbnisstätte. Doch auch er war, wie viele Geschichtsschreiber vor ihm, kein Zeitzeuge. So berichtete al-Kaisi, dass der Kalif al-Ma‘mūn (Almanon) im Jahr 831, also knapp 400 Jahre früher, einen Stollen in die Pyramide brechen ließ. Dort soll er in einem verschlossenen Sarkophag eine Mumie entdeckt haben, die einen goldenen, mit Edelsteinen geschmückten Panzer trug. Doch stichhaltige Beweise für diese Schilderungen wurden bis heute nicht gefunden. Dennoch gibt es Mutmaßungen, dass die bislang nicht gefundene Mumie des Pharaos in einem noch unentdeckten Raum der Pyramide ruhen könnte.
Aufgrund fehlender Beweise für ein Grabmal gab es bis heute zahlreiche Spekulationen über den eigentlichen Zweck der Pyramide. Sie reichen von einem Speicher des geheimen Wissens einer versunkenen Hochkultur bis hin zu einer Maschine zur Energiegewinnung. Ebenso zahlreich sind die Studien zur geometrischen Form der Pyramide oder zur Anordnung der drei Pyramiden auf dem Gizehplateau. Bislang sahen die Studien die Pyramide als Abbild abstrakter Zahlenverhältnisse oder erkannten das Maß des Goldenen Schnitts in ihr. Erst das 1984 veröffentlichte Buch „Das Geheimnis des Orion“ der beiden Autoren Robert Bauval und Adrian Gilbert bot eine ganz neue Sicht auf die Anordnung der drei Pyramiden.
Die beiden Autoren zeigten, dass die drei Pyramiden des Gizehplateaus nach der Lage der Gürtelsterne des Orion ausgerichtet sind, die einst den Totengott Osiris verkörperten. Innerhalb der ägyptischen Mythologie war Osiris der älteste Sohn des Erdgottes Geb und der Himmelskönigin Nut. Im Laufe der Geschichte wandelte sich sein Bild vom Sonnen- zum Fruchtbarkeitsgott, bis er schließlich seine Rolle als Totengott fand. Verstarb ein Pharao, wurde er dem Osiris gleichgesetzt – er ging in ihn ein und wurde so auch zu einem Teil von ihm. Gleichzeitig erhielt er zu seinem bisherigen Namen den Zusatz Osiris.
Während das Aufgehen im Leib des Osiris anfänglich exklusiv dem Pharao vorbehalten war, wandelte sich diese Vorstellung ab dem Mittleren Reich. Von da an bekam jeder Sterbliche, sofern er das Totengericht bestand, die Möglichkeit zum ewigen Leben in Osiris. Damit zählte diese Form der Existenz im Jenseits zu einem wesentlichen Bestandteil der ägyptischen Mythologie. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass nicht nur die äußere, sondern auch die innere Ordnung der Pyramide durch das Bild des Osiris bestimmt wurde. Die durch Osiris bestimmte Anordnung der einzelnen Räume, Kammern und Gänge bietet zudem eine Erklärung für den einstigen Zweck dieses Monumentalbauwerkes.
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