Der Artikel, den niemand drucken wollte

artikelniemandIm Frühjahr 2019 beschließen fünf namhafte Medienwissenschaftler, einen Artikel für die Mainstreampresse zu verfassen. Dieser soll anhand solider Quellen belegen, wie einseitig die Massenmedien mit der westlichen Außenpolitik umgehen. Was meinen Sie, wer „Hier!“ schrie? Ein einziges liberales Blatt, mit dem die Wissenschaftler dann auch eng zusammenarbeiten.

Kurz vor der anvisierten Veröffentlichung schreitet plötzlich der Chefredakteur ein – und der Artikel wird eingestampft. Kein Wunder: Belegt er doch, dass die Massenmedien sich der Komplizenschaft beim Staatsterror schuldig gemacht haben – und das Blut von Millionen Unschuldigen an den Fingern der Journalisten klebt.

Als Noam Chomsky zum ersten Mal davon berichtete, dass die Vereinigten Staaten Südvietnam angegriffen hatten, legte er den Grundstein dafür, einen besonders hartnäckigen Fall von Medienkonformismus aus jener Ära aufzudecken. Damals stützten sich die Medien nämlich auf das Narrativ, der Westen würde die Kommunisten im Norden angreifen, um Saigon zu verteidigen. Der junge Professor sollte auf spektakuläre Weise bestätigt werden: Bei Kriegsende stellte sich heraus, dass zwei Drittel aller US-amerikanischen Bomben – doppelt so viele Tonnen wie im gesamten Zweiten Weltkrieg – im Süden abgeworfen worden waren.

Der führende Militärhistoriker Bernard Fall – der die amerikanische Präsenz dort befürwortete – erklärte seinerzeit:

„Vietnam ist als kulturelle und historische Einheit […] von der Auslöschung bedroht […] Die ländlichen Regionen gehen buchstäblich zugrunde – unter den Schlägen der größten Kriegsmaschinerie, die jemals in einem Gebiet dieser Größe entfesselt wurde.“

Dennoch waren die amerikanischen Aktionen in Vietnam aus Sicht der Mainstreammedien entweder ein „ehrenhaftes Anliegen“, das bei größerer Entschlossenheit zum Sieg geführt hätte, oder, auf der anderen Seite des politischen Spektrums, ein „Fehler, der sich als allzu kostspielig erwies“.

Wie ein Strudel saugte der Krieg alles in sich hinein: Vietnam, Kambodscha und Laos. Ja sogar Bernard Fall selbst fiel einer Landmine zum Opfer.

Osttimor: Der verschwiegene Völkermord

Auch als Indonesien im Jahr 1975 Osttimor angriff, entdeckten Chomsky und sein Mitautor Edward S. Herman als einige wenige auf weiter Flur, dass überhaupt ein Angriff stattgefunden hatte. Luftbombardements, Massenhinrichtungen und eine aufgezwungene Hungersnot forderten 200.000 Menschenleben. Dennoch fand die Besetzung in den US-amerikanischen Medien so gut wie keine Aufmerksamkeit.

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Gerald Ford und Suharto am 6. Dezember 1975, einen Tag vor der Invasion in Osttimor

Wir stellten fest, dass die Berichterstattung über Ost­timor in kanadischen Zeitungen wie The Globe and Mail nach der Invasion abflaute und 1978, als die Gräueltaten ihren Höhepunkt erreichten, praktisch zum Erliegen kam.

Zwei Jahrzehnte später berichtete der Dokumentarfilm „Bitter Paradise: The Sell-out of East Timor“ (1989) über ebendiese Geschichte. Er wurde jedoch von einem großen kanadischen Pressemedium gekauft – und dann begraben.

Eine weitere Ausnahme war John Pilgers „Death of a Nation: The Timor Conspiracy“ (1994), eine Sendung, die von ITV in Großbritannien ausgestrahlt wurde. Pilger, sein Regisseur David Munro und der Journalist Christopher Wenner waren unter dem Vorwand nach Timor gereist, ein Reiseunternehmen zu vertreten. Ihr Film stellte die Komplizenschaft des Westens bei einem nach Ansicht der meisten Analysten wahren Völkermord bloß.

Pilger zitierte den ehemaligen CIA-Beamten C. Philip Liechty, der in Jakarta stationiert war. Nach dessen Angaben hatte der indonesische Präsident Suharto „[von den USA] grünes Licht für sein Vorhaben erhalten. Wir lieferten denen alles, was sie brauchten, [von] M16-Gewehren [bis hin zu] logistischer Militärunterstützung […] Als die Gräueltaten in den CIA-Berichten aufzutauchen begannen, bestand die Vorgehensweise darin, diese so lange wie möglich zu verschleiern.“

Zweierlei Maß – Beispiele

Unser Interesse als Medienwissenschaftler, die sich intensiv mit Hermans und Chomskys Werk über Propaganda auseinandersetzen, gilt insbesondere Sichtweisen, die vom Mainstream – und ganz besonders von den progressivsten Nachrichtenmedien – ignoriert werden.

In den letzten zehn Jahren konnten wir einer Reihe von begutachteten Studien über die Darstellung zahlreicher Länder in den westlichen Medien entnehmen, dass über die Feinde des Westens nach wie vor ganz anders berichtet wird als über die westlichen Verbündeten. Das galt beispielsweise für die Diktaturen Südvietnam und Indonesien in der Zeit des Kalten Krieges. Verbrechen gegen „antiwestliche“ Regime an Orten wie Serbien/Jugoslawien, Afghanistan, Iran oder Syrien waren regelmäßig Ziel von Medienkampagnen, die für eine externe Intervention plädieren. Auch wenn die moralische Entrüstung gerechtfertigt sein mag, begingen die USA und Großbritannien – nebst ihren Verbündeten Israel, Ägypten oder Kolumbien – Gräueltaten, die konstruktiv umgedeutet oder mit einer nur symbolischen Berichterstattung bedacht wurden.

Einige Staatsstreiche sind „cool“

Unsere Recherchen haben beispielsweise ergeben, dass Venezuela seit der Wahl des extrem populären Präsidenten Hugo Chávez im Jahr 1998 als „sozialistische Diktatur“ dämonisiert wird.

Nach dem Putsch von 2002 begrüßte beispielsweise die New York Times eine kurzlebige, von den USA unterstützte Diktatur in Venezuela als einen „erfrischenden Ausdruck von Demokratie“. Seither warb die Main­stream­presse – nicht zu vergessen einige haarsträubende Videospieleunaufhörlich für einen weiteren Staatsstreich, diesmal gegen Präsident Nicolás Maduro, den 2013 gewählten Nachfolger von Chávez. Als Grund nannte die Presse dessen angebliche Misswirtschaft.

Als der Oppositionspolitiker und selbst ernannte Präsident Juan Guaidó am 30. April 2019 das venezolanische Militär zum Sturz von Maduro aufrief, zögerten die westlichen Medien, dies überhaupt als einen Staatsstreich zu bezeichnen. Eine Umfrage des Medienbeobachtungsunternehmens Fairness & Accuracy in Reporting (FAIR) ergab, dass buchstäblich kein einziger der führenden US-Kommentatoren Einwände gegen diesen Putschversuch vorzubringen hatte. Es fielen eher Begriffe wie „Aufstand“, „Protest“ oder gar „von der Opposition initiierte, vom Militär unterstützte Herausforderung“.

Neue Sanktionen der USA und Großbritanniens wurden von der Mainstreampresse gefeiert, obwohl diese die Krise nur verschärften. Die Vereinigten Staaten stoppten den Import von Insulin, Dialysegeräten, Krebs- und HIV-Medikamenten, auch solchen, die Venezuela bereits bezahlt hatte.

Nicht zuletzt infolge dieser Sanktionen starben laut eines Berichts führender Wirtschaftswissenschaftler des Center for Economic and Policy Research in Washington alleine zwischen August 2017 und Dezember 2018 etwa 40.000 Venezolaner. Der Bericht stellte klar, dass ein Staat mit solch „riesigen Ölreserven […] in der Lage wäre, diese Art von wirtschaftlicher Krise zu überstehen“, wenn er nicht mit Sanktionen belegt würde.

Dan Shea, ein amerikanischer Veteran aus Portland, Oregon, der im März 2019 mit einer Delegation von Veterans for Peace nach Venezuela gereist war, stellte uns die Frage:

„Wenn Amerika wirklich aufgrund von humanitären Bedenken handelt, warum verhängt das Land dann Sanktionen gegen die dortigen Menschen, die daraufhin verhungern, denen Medikamente vorenthalten werden und die man daran hindert, sich eine annehmbare Lebensqualität zu sichern? Die Einstellung von Medikamenten- und Nahrungsmittellieferungen verstößt gegen die Genfer Konvention. Die Amerikaner aber blockieren sämtliche Importe und schieben die Schuld dann dem Maduro-Regime in die Schuhe.“

Die Vereinten Nationen haben die Sanktionen formell verurteilt. Ein ehemaliger Sekretär des UN-Menschenrechtsrats verglich sie mit einer mittelalterlichen Belagerung und nannte sie ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Solche beunruhigenden Fakten wurden von den Medien jedoch weitgehend ignoriert.

Krieg aus altruistischen Motiven

Venezuela ist die Regel und nicht die Ausnahme. Als im Februar 2011 in Libyen ein Konflikt zwischen der Regierung und Oppositionsgruppen ausbrach, stellten die Nachrichtenmedien die Aktionen der libyschen Regierung als willkürliche, von höchsten Regierungskreisen angeordnete Verbrechen hin. Wie sich herausstellte, waren die libyschen Sicherheitskräfte aber keineswegs wahllos gegen Protestierende vorgegangen, wie das britische Unterhaus später bestätigte.

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Der Rabaa-al-Adawiya-Platz während der Auflösung der Demonstration von Mursi-Anhängern am 14. August 2013 (Foto: Amsg07)

Lediglich in einem von nur zwei Artikeln der New York Times, die sich kritisch mit der später von Frankreich angeführten NATO-Intervention in Libyen auseinandersetzten, wurde die „Torheit“ der „endlosen altruistischen Kriege“ angeprangert. Auf diesen stieß man bei einer systematischen Untersuchung im Rahmen einer Masterarbeit. Der Artikel wandte sich auch gegen einen Krieg aus taktischen Gründen, ohne jedoch auf die wesentlich tiefer gehende Kritik einiger Akademiker an der Intervention einzugehen.

Für die Nachrichtenmedien spielte es auch kaum eine Rolle, dass sich die Zahl der Todesopfer durch die NATO-Intervention mindestens versiebenfacht hatte, wie eine Studie des renommierten Magazins International Security später ergab.

Morde im Nahen Osten

Nachdem das ägyptische Militär am 3. Juli 2013 Mohammed Mursi, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes, gestürzt hatte, besetzten Demonstranten den Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo und verlangten die Wiedereinsetzung Mursis.

Am 14. August töteten die ägyptischen Sicherheitskräfte unter der Führung von General Abdel Fattah al-Sisi – einem wertvollen westlichen Verbündeten, der nach einem Staatsstreich im Jahr 2014 Präsident werden sollte – 817 Menschen, als sie den besetzten Rabaa-al-Adawiya-Platz räumten.

Human Rights Watch bezeichnete dieses Ereignis als „die weltweit größte Tötungsaktion von Demonstranten an einem einzigen Tag in der jüngsten Geschichte“. Westliche Nachrichtenmedien und diplomatische Kreise hatten dafür jedoch allenfalls milde Kritik übrig.

Schließlich galt al-Sisi als wesentlich stabilerer Führer, ganz nach dem Schlag des ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak.

Bis zum heutigen Tag hat es die New York Times vermieden, al-Sisi als „Diktator“ zu bezeichnen – obwohl er sich mittlerweile eine Regentschaft bis 2034 ausbedungen hat. Sie nennt ihn stattdessen ein „Bollwerk gegen islamistische Militanz“.

Grundsätzlich hat der Westen jedoch nichts gegen islamistischen Fundamentalismus einzuwenden. Saudi-Arabien, ein weiterer Verbündeter des Westens, bekommt erst jetzt allmählich Probleme mit seinem Menschenrechts-Narrativ, denn der Krieg Saudi-Arabiens gegen den Jemen hat sich zur schlimmsten humanitären Krise der Welt entwickelt.

Gleichzeitig gelangten die amerikanischen Geheimdienste zu dem Schluss, dass der saudische Diktator die Ermordung von Jamal Khashoggi angeordnet hatte. Über die grausame Tötung und Zerstückelung des Journalisten der Washington Post wurde in den Medien ausgiebig und in verurteilender Weise berichtet. Die Berichterstattung über den Krieg im Jemen war dagegen jämmerlich, besonders im ersten Jahr des Konflikts.

Mit einer unglaublichen Rationalisierung, die kommentarlos unterging, deutete der britische Außenminister Jeremy Hunt gegenüber dem Magazin Politico an, dass das Vereinigte Königreich als zweitgrößter Waffenlieferer für Saudi-Arabien geradezu prädestiniert sei, die Gewalt demnächst zu beenden.

Irgendwie, irgendwann – vier Jahre läuft der Krieg nun schon, und es ist noch immer kein Ende abzusehen.

Krieg ist Frieden, in der Tat.

Ablenkungsmanöver

Dann wäre da noch „Russiagate“, das von den Demokraten lange propagierte, umwerfende Meister­narrativ, wonach der russische Präsident Wladimir Putin angeblich heimlich den amerikanischen Präsidenten Donald Trump kontrollierte, indem er drohte, dessen Geheimnisse auszuplaudern – und Wahlurnen und soziale Medien manipulierte, um die amerikanische Außenpolitik zu beeinflussen und 2016 die amerikanische Präsidentenwahl zu verfälschen.

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2016 gaben Trump und Clinton während des Wahlkampfs 81  Millionen US-Dollar für Facebook-Werbung aus (Bild: TheNextWeb.com)

Der lange erwartete Mueller-Bericht über diese angeblichen Machenschaften versetzte der Verschwörungstheorie über Trump und Russland einen herben Schlag, während viel offensichtlichere Einflüsse, wie die der Großkonzerne und der israelischen Regierung oder auch die massive Einflussnahme der USA selbst auf die demokratischen Systeme anderer Länder, „weichgespült“ wurden.

Das „Russiagate“-Narrativ fällt auch schon dann in sich zusammen, wenn man sich die politischen Werbe­daten ansieht. Laut Facebook gab das russische UnternehmenInternet Research Agency während des amerikanischen Präsidentenwahlkampfs etwa 100.000 US-Dollar für Facebook-Werbung aus. Die Kampagnen von Hillary Clinton und Donald Trump brachten es dagegen auf Ausgaben von 81 Millionen US-Dollar für Facebook-Werbung.

Im Gegensatz zur russischen Agentur arbeiteten die Kampagnenteams von Trump und Clinton außerdem mit den Social-Media-Riesen zusammen, um ihre jeweilige Online-Präsenz zu stärken. Facebook stellte sogar extra Mitarbeiter für die Unterstützung der Trump-Kampagne ab, da für diese Millionen auf der Plattform ausgegeben wurden.

Die Kommunikationswissenschaftler Daniel Kreiss und Shannon McGregor kommentierten dies so:

„Die Rolle, die Facebook während der Präsidentenwahl 2016 spielte, ist stark in den Fokus geraten […] Unsere Nachforschungen ergaben jedoch, dass ein weit weniger diskutierter Aspekt der politischen Einflussnahme von Facebook hinsichtlich des Wahlergebnisses viel bedeutendere Folgen zeitigte. Die routinemäßige Nutzung von Facebook seitens der Kampagnen von Trump und anderen – die während dieses Zyklus einen wesentlichen Anteil an der bezahlten Digitalwerbung im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar hatten – erzielte wahrscheinlich eine deutlich größere Reichweite als russische Bots und Fake-News-Seiten.“

Diese Ausgaben von 1,1 Milliarden US-Dollar wurden von Politikern und Gruppen innerhalb und außerhalb der Kampagnen von Trump und Clinton bestritten.

Das letzte Mal, dass man bei MSNBC, dem liberalsten Fernsehnetzwerk der USA, jemanden zu Wort kommen ließ, der „Russiagate“ skeptisch gegenüberstand, war im Januar 2017, gerade als Trump sein Amt antrat.

„Russiagate“ hat einen neuen kalten Krieg heraufbeschworen. Da die Medien von Russland besessen waren, zogen sie ihre Aufmerksamkeit von anderen, weit gefährlicheren Aktionen der Trump-Regierung ab, beispielsweise in Bezug auf Klimawandel, Abtreibungsrechte oder Unternehmensrettung.

Natürlich werden weder alle Nachrichtenwerte von mächtigen Kräften bestimmt, noch ist es überraschend oder notwendigerweise schädlich, wenn sich bezüglich bestimmter Vorstellungen ein Konsens herausbildet. Macht ist jedoch ein auffallend relevanter Faktor – und die Mehrheitsmeinung korreliert eindeutig mit den Interessen der Elite.

Doch selbst in einer Ära der Missherrschaft, in der auf der ganzen Welt Massenbewegungen gegen zahlreiche außenpolitische Fehler entstehen, unterstützen die großen Medienunternehmen regelmäßig nach wie vor das Narrativ ihres eigenen Staates.

Ablenkung der Massen

In besonders spektakulärer Weise geschah dies vielleicht in Bezug auf das Thema Irak und das Fiasko mit den Massenvernichtungswaffen. Große amerikanische und britische Studien über die Medienberichterstattung im Irakkrieg legen den Schluss nahe, dass die Diskurse in den Nachrichtensendungen die Sichtweisen der mächtigen politischen und militärischen Eliten widerspiegelten. Die Medien hatten aber kaum auf dem Schirm, dass die Invasion beziehungsweise die Besetzung des Irak eine Aggression und damit nach internationalem Recht das schlimmste völkerrechtliche Verbrechen darstellte.

Nichtsdestotrotz liefen wenigstens die Kameras mit, als die Invasion von 2003 und damit eine Kampagne begann, die – selbst nach konservativsten Schätzungen – zur gewaltsamen Tötung von Menschen im sechsstelligen Bereich führte. Man mag sich die Frage stellen, wo denn die großen Autoren und Kameraleute des Westens im vorangegangenen Jahrzehnt gewesen sind, der Zeit, als Sanktionen den explosionsartigen Anstieg der Zahl toter Kinder bewirkt hatten. Über die genauen Zahlen besteht zwar nach wie vor keine Einigkeit, doch wird vermutet, dass sie ebenso extrem hoch liegen könnten wie während der Invasion und der Besetzung selbst.

Unsere Arbeit zeigt auch, dass über den Krieg in Syrien auf eine höchst parteiliche Art und Weise berichtet wurde – hier wiederholte sich die erbärmliche Leistung der Medien während des Irakkriegs. Der altgediente Korrespondent Patrick Cockburn erklärte:

„Die westlichen Nachrichtenmedien haben ihre Berichterstattung über den Konflikt fast ausschließlich auf die Seite der Rebellen ausgerichtet.“

Das führte laut Cockburn zu „fabrizierten Nachrichten und einer einseitigen Berichterstattung, wie wir sie vermutlich seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben“.

Lügen in Syrien

Ein weiteres Beispiel: Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) war beauftragt worden, mittels einer Tatsachenerhebungsmission (FFM) angebliche chemische Angriffe im Syrienkonflikt zu untersuchen.

2019 ließ ein anonymer OPCW-Whistleblower Insider­informationen über diese Tatsachenerhebungsmission sowie eine technische Beurteilung durchsickern, die offenbar von der OPCW unterdrückt worden war.

Diese Leaks gegenüber der britischen Arbeitsgruppe für Syrien, Propaganda und Medien (WGSPM) sowie andere von dieser Gruppe zusammengestellte Fakten legen die Vermutung nahe, dass einige Berichte der OPCW von deren technischem Sekretariat, das die FFM durchgeführt hatte, manipuliert worden waren. Ein Bericht der WGSPM lässt darauf schließen, dass das technische Sekretariat von einer Staatenallianz, bestehend aus Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA, kooptiert worden war. Darüber hinaus blieben in einigen OPCW-Berichten Beweise dafür, dass einige der angeblichen chemischen Angriffe inszeniert worden sein könnten, unerwähnt oder wurden ignoriert.

Aufgrund dieser Enthüllungen lässt sich vermuten, dass syrische Oppositionskräfte diese Gräueltaten inszenierten, um den Westen zu einer „humanitären“ Militärintervention zu veranlassen.

Tatsächlich löste einer der angeblichen chemischen Angriffe, dessen Urheberschaft heute fraglich ist – nämlich der Angriff in Duma im April 2018 –, eine Reihe von Schlägen seitens Frankreichs, der USA und Großbritanniens aus.

Diese Geschichte über die OPCW-Leaks explodierte förmlich in den alternativen Medien; in den Mainstream­medien aber beschränkte sie sich weitgehend auf die Kolumnen von Peter Hitchens in The Daily Mail und Robert Fisk in The Independent (auch wenn France 24 / AFP und Fox News die Geschichte immerhin aufgriffen).

Missbrauch anstelle von Wahrheit

Überall auf der Welt verteidigen die staatlichen Mediensysteme regelmäßig jeden staatlichen Missbrauch, anstatt ihn, wie sie vorgeben, anzuprangern. Dieses Problem ist Autokratien und Demokratien, dem Osten und dem Westen gemeinsam. Diese Situation entspricht genau den Mustern der Medienarbeit, die sich anhand des Propagandamodells von Herman und Chomsky voraussagen lassen.

propaganda

Millionen sterben. Diese überflüssigen Tode gehen auf das Konto mächtiger Personen und Institutionen des Westens und sind die vorhersehbare Folge wirtschaftlicher und militärischer Kriegsführung. Dabei haben wir die lange Blutspur, die bestimmte aufgeblähte und verhätschelte Industrien aus unseren eigenen Reihen – allen voran die Tabak-, Bergbau- und Waffenindustrie – hinter sich herziehen, noch nicht einmal angesprochen. Das gilt ebenso für den unverhältnismäßig hohen Anteil, den westliche Armeen an der Verschmutzung und der Erderwärmung haben, oder aber für die neuen Höllenszenarien, die jederzeit im Iran, aber auch in China oder Russland ausbrechen könnten.

Unbestrittene gegenteilige Fakten, verlässliche Analysen und gut präsentierte alternative Narrative findet man in einer Reihe von Quellen, wie beispielsweise MediaLens.org. Aber selbst in den löblichsten kommerziellen Pressekanälen bleiben sie Stückwerk.

Die Medien machen sich zu Komplizen. Das geschieht unaufhörlich. Tatsächlich geschah es gerade eben wieder.

Allgemeine Zensur

Wir als Akademiker, die die wahre Rolle der Medien und deren Funktion studiert und dokumentiert haben, erwarteten gerade von den Medien, die wir kritisierten, keine allzu große Reaktion. Doch wie das Schicksal es so wollte, konnten wir eine führende liberale Publikation für das Projekt begeistern.

Aber nicht nur das. Das Pressemedium hat mehrere Wochen lang eng mit uns zusammengearbeitet. So entstand eine Version des Artikels, die alle Beteiligten für außerordentlich gelungen hielten. Der Redakteur verfasste sogar eine einzigartig eingängige Schlagzeile: „Wie westliche Medien staatlich sanktionierte Kriege und Gewalt verschlimmern und rationalisieren – und Millionen Menschen sterben“.

Der Artikel sollte an einem Donnerstagmorgen im April veröffentlicht werden. Allerdings intervenierte vorher der Chefredakteur, um noch eine letzte Überprüfung vorzunehmen. Eine Stunde später erhielten wir einen Anruf des ersten Redakteurs, der uns darüber informierte, dass es ein Problem und eine Verzögerung gebe.

„Und Millionen sterben“ war aus dem Titel gestrichen worden. Alle Verweise auf eine westliche Einmischung in Osttimor, Vietnam, Indonesien und Venezuela waren gestrichen worden. Unsere Hinweise auf Ed Herman und Noam Chomsky und sogar unser eigener Status als Propagandawissenschaftler waren gestrichen worden.

Den Chefredakteur verwirrte unsere Kritik an der New York Times, denn er ging davon aus, dass deren verdrehte Kritik an der NATO-Intervention in Libyen nach unseren Begriffen eine „gute Sache“ sein müsse. Wir fragten ihn, ob er es für eine gute oder legitime Kritik beispielsweise an dem syrischen Diktator Assad hielte, wenn man diesen „endloser altruistischer Kriege“ bezichtigte?

Neben unserem Textabsatz über die NATO-Bombardierung von Libyen stand die Anmerkung: „Hier muss eine Zeile über das Gaddafi-Regime eingefügt werden. Dessen Gräueltaten kann man nicht ignorieren.“ In unserer Antwort wiesen wir darauf hin, dass es unsere Seite und unsere „Rebellen“ in Libyen waren – und gerade nicht die Gaddafi-Regierung –, die Menschenrechtsverletzungen und ethnische Säuberungen an Schwarzafrikanern in großem Stil begingen.

Unser Artikel war mit zahlreichen Hyperlinks zu sehr guten und äußerst gründlichen und verlässlichen Quellen versehen, zu denen auch unsere eigenen begutachteten Zeitschriftenartikel zählten. Wir antworteten auf jede Nachfrage und hatten über einen Monat lang wöchentlich Kontakt mit dem Pressemedium, bis man uns schließlich mitteilte, wir sollten uns anderswo umsehen.

Als die Ereignisse ihren Lauf nahmen, schrieb uns Noam Chomsky:

„Eine unglaubliche Geschichte. Zwar waren diese Aussagen [über historische amerikanische Kriegsverbrechen] seinerzeit höchst kontrovers, allerdings nahm ich an, dass sogar der Mainstream sie heute toleriert – und sie als historische Ereignisse, vergangene Fehler oder Ähnliches abtut.“

Chomsky war über unsere ungewöhnlich pointierte und klar dokumentierte Erfahrung mit dem Pressemedium zwar „schockiert“ und „überrascht“, meinte dann jedoch: „Leider ist das die Norm.“

Anmerkung der Redaktion

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf PeaceNews.info veröffentlicht und später von ProjectCensored.org übernommen; wir haben nur eine redundante Passage editiert. Sie finden das Original unter http://tinyurl.com/y3hljmqp.

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