Im Jahr 2000 veröffentlichte der Vatikan endlich das sogenannte dritte Geheimnis von Fatima, in das jahrelang alle möglichen Horrorszenarien für den Untergang dieser Welt hineininterpretiert wurden. Die beiden ersten Verkündungen bezogen sich auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sowie den Zusammenbruch des Kommunismus.
Das dritte Geheimnis hatte die inzwischen verstorbene Lucia dos Santos zwischen 1935 und 1944 vier Mal zu Papier gebracht. Seit April 1957 wurde es im Geheimarchiv des Vatikans aufbewahrt. Papst Johannes XXIII. wollte das Geheimnis nicht lüften. Papst Paul VI. las es und ließ es wieder zurückgehen. Papst Johannes Paul II. las es nach dem Attentat von 1981 und auch er ließ es wieder im Geheimarchiv verschwinden, ohne es der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dann endlich im Jahr 2000 wurde in Rom der gesamte Text der mysteriösen Prophezeiung von der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre unter dem deutschen Kardinal Joseph Ratzinger vorgelegt. Auf einer Pressekonferenz gab Kardinal Ratzinger (er wurde erst 2005 Papst) seinen Kommentar zum Geheimnis von Fatima.
Ratzinger betonte, dass der Kommentar der Glaubenskongregation kein offizieller, aber doch ein authentischer sei. Er unterscheidet zwischen einer „öffentlichen Offenbarung“ – die nur einer Offenbarung Gottes gleichkäme, wie sie im Alten Testament und Neuen Testament stehe – und einer „privaten Offenbarung“ wie das Geheimnis von Fatima. Private Offenbarungen seien eine Hilfe im Glauben und gleichzeitig eine Botschaft, um das Evangelium besser verstehen zu können. Wie Kardinal Ratzinger auf dieser Pressekonferenz erklärte, sei das Schlüsselwort des dritten Geheimnisses „Penitenza, Penitenza, Penitenza“ („Buße, Buße, Buße“). Allen anderen Deutungen und Horrorszenarien widersprach Ratzinger vehement.
In dieser vorgelegten Interpretation wird nun von einem Kreuzweg eines Jahrhunderts gesprochen und nicht länger von einer Fixierung auf den Papst. Auf die Frage, was denn nun das Geheimnis von Fatima bedeute, erklärte Ratzinger:
„Die Führung zum Gebet als Weg zur Rettung der Seelen und im gleichen Sinn der Hinweis auf Buße und Bekehrung. Diese Weissagungen zeigen die göttliche Kraft, die sich gegen die Macht des Bösen stemmt.“
Hesemann hat in dem Buch alle Aussagen, Umstände, Interpretationsmöglichkeiten und geschichtlichen Abläufe der drei Geheimnisse von Fatima zusammengetragen und sehr ausführlich von allen Seiten, aber ausschließlich unter der Prämisse der kirchlichen Darstellungen beleuchtet. Zwar gibt sich Hesemann sachlich und kritisch, jedoch fehlt ihm meines Erachtens die notwendige Distanz durch die automatische Übernahme der kirchlichen Interpretationen.
Zudem ist nicht zu übersehen, dass Lucia selbst ihre eigenen Niederschriften über die erhaltenen Marienbotschaften im Laufe der Jahre vom ersten mündlichen Bericht im Jahr 1917 bis zur vierten Niederschrift im Jahr 1944 erheblich veränderte und auch erweiterte. Und nicht nur das, auch Widersprüche fanden sich in ihren eigenen Aussagen. Im April 2000 führte Erzbischof Bertone ein Gespräch mit Schwester Lucia und stellte ihr die Frage, warum das Jahr der Veröffentlichung mit 1960 angegeben sei? Ob denn die Madonna dieses Datum angegeben habe? Und Lucia sagte:
„Es war nicht die Dame, sondern ich habe 1960 als Datum gesetzt, weil man es – wie ich spürte – vor 1960 nicht verstehen würde. Man würde es nur danach verstehen. Nun kann man es besser verstehen. Ich habe das geschrieben, was ich gesehen habe. Mir steht die Deutung nicht zu, sondern dem Papst.“
Was soll man dazu sagen? Lucia hat eingestanden, dass sie früher immer wieder gelogen hat. Gerade und nicht zuletzt deshalb wäre eine etwas kritischere und distanziertere Beleuchtung vom Autor wünschenswert gewesen.
Verwundert bin ich über die vielen wörtlichen Reden und Zitate im Buch. Entweder hat der Autor hier die Geschichte auflockern wollen und zur mündlichen Rede gegriffen – dann wäre es Fiktion –, oder aber er wäre bei allen Unterhaltungen dabei gewesen, was unmöglich sein kann. Um belegte Quellen kann es sich auch nicht handeln, weil keine Quellen benannt werden. Und das ausgerechnet bei so einem sensiblen Thema!
Das Buch ist der Versuch einer Auslegung der drei Geheimnisse von Fatima auf der Basis der Interpretationen der katholischen Kirche, die Hesemann übernimmt. Auch wenn der Glaube der jeweiligen Päpste an die Geheimnisse von Fatima für gläubige Katholiken ein starkes Gewicht haben mag, so mögen die in dem Buch gebotenen Ausführungen nicht jeden überzeugen. Befremdet hat mich der Umgang mit Zitaten und die wörtliche Wiedergabe von Gesprächen, denen der Autor unmöglich beiwohnen konnte und die nicht belegt sind. Das stärkt nicht gerade die Glaubwürdigkeit und lässt mich etwas distanziert von den Aussagen zurück. Am Ende bleibt immer noch die Frage offen: Was stimmt denn nun wirklich an Lucias Aussagen? Die endgültige Wahrheit hat Lucia 2005 wohl mit ins Grab genommen.
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