Khashoggis Ermordung stellt den „Reformationsprinzen“ und De-facto-Herrscher Saudi-Arabiens Mohammed bin Salman (MbS) ins grelle Scheinwerferlicht, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem ihn das in höchste Verlegenheit bringt. Höherstehende Mitglieder der Königsfamilie betrachten seine Herrschaft als „toxisch“, und seit seinem Aufstieg zum Kronprinzen im Jahr 2015 betrachten die westlichen Geheimdienste seine Loyalitäten mit Argwohn. Als er im letzten Jahr plötzlich elf milliardenschwere Prinzen und Dutzende von Staatsbediensteten, die mit der Herrscherelite Saudi-Arabiens verbunden waren, verhaften und ins Gefängnis werfen ließ, fand das bei der westlichen Schwätzerklasse, die im Laufe der Jahre mit der saudischen Großzügigkeit gut gefahren war, äußerst wenig Anklang. Man konnte ja noch darüber hinwegsehen und eventuell sogar vergeben, dass Frauen versklavt, Köpfe abgehackt und Busse voller Schulkinder in die Luft gejagt wurden, aber diese teuren Nächte im Londoner Ritz zu beschneiden, das war eine ganz andere Größenordnung und brachte seine Gegner dazu, seither auf der Lauer zu liegen. Wie mögen seine Überlebenschancen stehen?
Man könnte es das Khashoggi-Gambit nennen. Es spricht viel dafür, dass die CIA / der MI6 entweder einen Staatsstreich organisieren oder den Prinzen zu einem Abkommen mit den seit Langem schlummernden eurasischen Riesen China und Russland drängen wird. Ein ganz ähnlicher ungelöster Mordfall im nahe gelegenen Afghanistan, der vor 40 Jahren in Zimmer 117 des Kabul Serena Hotel verübt wurde, brachte das amerikanische Militär direkt in den Nahen Osten, zementierte die antisowjetische Militärallianz zwischen den USA und China, läutete die neoliberale Weltordnung ein und beendete letztlich den ersten Kalten Krieg. Kann es da Zufall sein, dass ein weiteres politisches Opfer – dessen Fall viele vergleichbare Merkmale aufweist und bei dem das gleiche Kräftegleichgewicht auf dem Spiel steht – die Ereignisse vor 40 Jahren nachbildet und damit die Bühne für eine Ära bereitet, in der wir uns einem neuen Kalten Krieg und einer permanenten Umkehrung der Rollen des Ostens und des Westens gegenübersehen?
Der Mythos des „gemäßigten Dschihadisten“, den Khashoggi als Mitglied der Muslimbruderschaft verkörperte, brachte die Vereinigten Staaten in den 1970er Jahren nach Afghanistan und hält die amerikanischen Truppen im längsten Krieg der amerikanischen Geschichte noch immer dort fest. Dieser Mythos beruht auf der immer noch gern vertretenen Annahme, dass vom Hass auf den Westen erfüllte Islamisten letztlich zu „freiheitsliebenden“ demokratischen/neoliberalen Kapitalisten des freien Marktes mutieren werden, wenn man ihnen nur genug Zeit, Geld und militärisches Spielzeug zur Verfügung stellt. Dieser eigennützige Mythos bildet den Kern der neoliberalen Agenda, die die USA in einem vagen, endlosen Krieg gegen zahlreiche Terrororganisationen wie die Taliban oder kaum getarnte Al-Qaida-Verschnitte gefangen hält, die sie gleichzeitig unterstützen. Dass diese Idiotie bereits zahlreiche säkulare Staaten des Nahen Ostens, die sich auf dem besten Weg in die Moderne befanden, zerstört und auch in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien kläglich versagt hat, dürfte mittlerweile offenkundig sein, aber dennoch lebt das Imperium seinen Drang, überall zu herrschen, weiterhin aus, koste es, was es wolle. Auf die überschwängliche PR-Kampagne, die eine demokratische „freie Welt“ anpreist, sollte niemand hereinfallen.
Jamal Khashoggi, der Neffe des milliardenschweren Waffenhändlers Adnan Khashoggi, orientierte sich keineswegs in Richtung einer liberalen Demokratie, einer konservativen Demokratie oder in irgendeine andere Richtung, die nur im Entferntesten mit einer „freien“ Welt zu tun hat. Alastair Crooke brachte das folgendermaßen auf den Punkt:
„Auch Khashoggi symbolisiert auf seine ganz persönliche Weise diesen ehrgeizigen Spagat zwischen [Osama] bin Ladens Al-Qaida und der Muslimbruderschaft.“
Trotz seines freundlich lächelnden Gesichts und seiner – ach so amerikanischen – Baseballkappe, die er auf den Kommentarseiten der Washington Post zur Schau stellte, war Khashoggi ein loyaler Propagandist des brutalen saudischen Regimes und ein unreformierter Dschihadist. Prinz Turki al-Faisal, der ehemalige Chef des saudischen Geheimdienstes und Botschafter in Washington, brach seine enge Beziehung zu Khashoggi sogar ab und ermahnte ihn wegen seiner blinden Treue zur Bruderschaft und deren „Kultstatus“, die sich terroristischer Aktionen bedient, um ihre Ansichten zu verbreiten. Die Tatsache, dass Khashoggi ein Zuhause bei der Washington Post fand, spricht für sein Renommee als engagierter Neokonservativer. Alastair Crooke betont:
„Der Westen feierte Khashoggi als Liberalen, der sich für demokratische Reformen einsetzte, aber in Wirklichkeit war er ein unerschütterlicher Verfechter des monarchistischen Systems (als dessen faktisches Oberhaupt MbS agiert). Er behauptete jedoch stets, alle diese Monarchien seien ‚reformierbar‘. Unreformierbar seien nur die säkularen Republiken (wie Irak, Syrien und Libyen), die deshalb gestürzt werden müssten.“
Die Befürwortung des Umsturzes säkularer Regimes und deren Ersatz durch muslimische Fanatiker rückten Khashoggi geradewegs ins Zentrum der neokonservativen Außenpolitik. Deshalb war sein Tod durch die Hand einer saudischen Todesschwadron ein Schlag für deren gesamte Agenda. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese Agenda zum ersten Mal Fahrt aufnahm, als 1979 eine gar nicht so unähnliche Gräueltat gegen den amerikanischen Botschafter verübt worden war. Je schneller sich die Risse im Boden dieser Agenda ausbreiten und die Macht vom Westen auf den Osten übergeht, umso mehr lassen die Ähnlichkeiten zwischen dem Mord an Khashoggi und der Zeit vor dem (als Falle für die Sowjets inszenierten) Afghanistan-Krieg der 1970er Jahre das derzeitige Fiasko als etwas erscheinen, das über einen bloßen Zufall hinausgeht und eher einem Fahrplan für etwas viel Größeres gleicht.
Quelle: InvisibleHistory.com, 02.11.18; https://tinyurl.com/khashoggi-gambit
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