Das Problem des Bewusstseins
Seit die Menschheit das Bewusstsein erlangte, hat die Tatsache, dass das subjektive Selbst seine Aufmerksamkeit vor allem auf sich selbst richtet, zahlreiche Konflikte hervorgerufen. Am bedeutsamsten ist wohl die kognitive Dissonanz, die aus der Erkenntnis resultiert, dass wir sterbliche Wesen sind, die nur vorübergehend auf der Welt sind – und wir unserem Leben dennoch einen Sinn zuschreiben müssen. Gleichzeitig stellt sich uns das Problem der Moral, das daraus resultiert, dass wir durch unser „Ich“ von Natur aus egoistisch und anfällig für Gier, Lust und Rachegefühle sind.
Mit diesen Problemen haben sich im Lauf der Geschichte diverse Weltanschauungen beschäftigt, von denen viele bis heute einen Einfluss auf die Menschheit haben. Die mächtigsten unter ihnen sind die großen Religionen, die ich mir im letzten Teil dieser Artikelreihe näher ansehen will.
Eine Weltanschauung ist die Gesamtheit der Überzeugungen über grundlegende Aspekte der Realität. Sie begründet und beeinflusst alle Wahrnehmungen, das Denken, Wissen und Tun eines Menschen. Man bezeichnet die Weltanschauung auch als Lebensphilosophie, Ideologie oder Glaube und sie wird vor allem von Religionen gelehrt.
Im Folgenden werde ich die Weltanschauung des Hinduismus, Buddhismus, Christentums und Islams behandeln. Dann werde ich noch ein Stück weitergehen und mich mit neuen Erkenntnissen aus aktuellen wissenschaftlichen Theorien befassen. Immer werde ich dabei auf drei Fragen eingehen:
- Wie wird die Angst vor dem Tod überwunden?
- Wie wird Moral begründet?
- Wird das Problem des Bewusstseins gelöst – und ist diese Lösung gelungen und jedem zugänglich?
Hinduismus
Von etwa 5000 bis 3000 v. Chr. sprach die bikamerale Stimme als Brahman zu den heiligen Männern Indiens. Wie üblich sprach sie in Prosa und erzählte oft Geschichten, die wertvolle Lehren offenbarten. Diese Geschichten wurden mündlich Wort für Wort rezitiert, bis sie um 1700 v. Chr. in Sanskrit niedergeschrieben wurden. Die Sammlung alter bikameraler Weisheiten wurde Veden genannt und zur Grundlage des Weltbilds, das heute als Hinduismus bekannt ist.
Die Angst vor dem Tod wurde durch ein System der Reinkarnation überwunden. Das wahre Selbst (Jiva) ist dauerhaft und ewig. Die Beschaffenheit eines jeden Lebens ist durch das sittliche Verhalten und die geistige Erkenntnis der vorangegangenen Leben bestimmt. Alle menschlichen Handlungen werden nach ihren letztendlichen Folgen – dem Karma – beurteilt.
In diesem System der Reinkarnation kann man mehrere Male wiedergeboren werden, bis die Persönlichkeit vervollkommnet ist. Dann steht man im Einklang mit Atman, der einzigartigen Gottheit mit vielen verschiedenen Identitäten, und verschmilzt mit ihm. Davor gibt es Möglichkeiten, in der sozialen Stellung aufzusteigen oder zurückgestuft zu werden, sodass man als Tier, Mitglied der Kaste der Unberührbaren oder Schlimmeres wiedergeboren wird. Moralisches Verhalten wird durch den Glauben daran gefördert, dass der derzeitige Zustand nur vorübergehend ist und man stets daran arbeiten muss, sein Karma zu verbessern. All das ist in uralten Texten festgehalten, die vor endlos langer Zeit von der bikameralen Stimme gesprochen wurden.
Hindus verlassen sich ausschließlich auf die Priesterklasse und besagte alte Texte, um die Stimme Brahmans zu interpretieren. Sie selbst sind an der Religion nur über rituelle Praktiken beteiligt, die aus der bikameralen Zeit der Veden überliefert sind. Auf diese Art wurde ein strenges Kastensystem aufrechterhalten, in dem die Priester stets an der Spitze der sozialen Struktur stehen, gefolgt von den Kasten der Geschäftsleute, der Arbeiter und der Unberührbaren. Die Kaste, in die ein Mensch hineingeboren wird, kann er während seines Lebens nicht ändern.
Dieses System wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ungleichheit wird durch den hinduistischen Glauben an die karmische Bestimmung perpetuiert. Für die meisten gewöhnlichen Hindus bedeutet die Trennung nach Kasten Armut und Elend.
Im Westen verstehen wir unter Hinduismus vor allem Mystik, Meditation und Yoga – eine Sichtweise, die in den 1960er Jahren von den Beatles populär gemacht wurde. Die heiligen Männer oder Gurus des Hinduismus versuchten in ihrem Bemühen, den Geist zu verstehen, häufig das subjektive „Ich“ zu unterdrücken, um sich wieder mit der vorbewussten Weisheit der bikameralen Stimme zu verbinden. Manchen von ihnen scheint das tatsächlich gelungen zu sein.
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