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Sein Durst nach Erkenntnis treibt Odin zu einer Quelle am Fuß der Weltenesche Yggdrasil, die vom Riesen Mimir bewacht wird. Der Wächter, der selbst täglich aus der Quelle trinkt und für sein Wissen und seine Weisheit geschätzt wird, fordert ein Pfand: Odins physisches Auge. Odin tut, wie ihm geheißen – er trinkt, und das Wasser verschafft ihm tiefe Einsicht.
Der nordische Mythos ist nur einer von vielen auf der ganzen Welt, in denen Wasser mit Wissen gleichgesetzt wird – der Quell des Lebens stillt auch den Durst nach Erkenntnis. Lassen sich diese Mythen mit den jüngsten Befunden der Wasserforschung in Verbindung setzen, denen zufolge Wasser ein Gedächtnis hat?
Wasser ist für unsere Existenz von grundlegender Bedeutung. Wir sind Organismen, die hauptsächlich aus Wasser bestehen, und letztlich auf Wasser angewiesen, um auf einem Planeten leben zu können, der zum größten Teil von Wasser bedeckt ist. Es ist also kein Wunder, dass Wasser in Mythen, religiösen Überzeugungen, Volkssagen und anderen Traditionen eine wichtige Rolle spielt.
Die zentrale Bedeutung von Wasser in den Schöpfungsmythen sowie für Heilung und Reinigung innerhalb diverser Überlieferungen ist gut bekannt – weniger erforscht hingegen scheint eine andere mit Wasser verbundene Thematik zu sein, die ebenfalls häufig in der Mythologie auftaucht: seine Rolle als Quelle von Wissen und Weisheit.
Nehmen wir das Beispiel des nordischen Gottes Odin, der auf der Suche nach Wissen eines seiner Augen in der vom Riesen Mimir bewachten Quelle opfert. Im Gegenzug darf er aus ihr trinken und erlangt so das ersehnte Wissen. Das Wasser dient Odin jedoch nicht als Quelle von reinem Faktenwissen, sondern es geht um ein tieferes Verständnis. Indem er sein Auge opfert, das nur über eine beschränkte Wahrnehmung verfügt, erlangt er Weisheit und Erleuchtung.
Die Geschichte von Mimir selbst unterstreicht diese Interpretation. Der Riese trinkt täglich vom Wasser dieser Quelle und wird für sein Wissen und seine Weisheit geschätzt. Bezeichnenderweise bedeutet sein Name nicht nur „der Erinnernde“ oder „der Weise“, sondern es wird vermutet, dass er sprachgeschichtlich mit dem englischen Begriff memoryverwandt ist.1
Mimirs Quelle erinnert an das bekannte Sprichwort, dass jemand, der alles weiß, „eine Quelle allen Wissens“ sei, was vermutlich auf die biblische „Quelle“ oder den „Urquell“ der Weisheit in Sprüche 18,4 zurückgeht. Denselben Strang greift Terri Windling auf, der die Allgegenwart dieses Themas auch in Märchen sieht. In ihnen gehe es häufig um „Helden, die auf lange Reisen zum Brunnen am Ende der Welt oder zu Quellen im dunklen Herzen des Waldes geschickt werden, um eine Phiole mit dem Wasser des Lebens zu holen“. Meist verleihen schon ein paar Tropfen dieses Wassers neben anderen Gaben auch Weisheit.2
Es existieren auch Überlieferungen, in denen Meerwasser mit Wissen und Weisheit in Verbindung gebracht wird. In der altgriechischen Mythologie ist der Gott Proteus „der alte Mann des Meeres“, der von Poseidon die Gabe der Vorsehung erhält und über Allwissenheit verfügt. Ein Bezug zum Meer findet sich auch in der Tradition der neuseeländischen Maori, in der der Gott Tane in den Himmel reist, um altes Wissen zur Bewältigung der menschlichen Existenz auf Erden wiederzuerlangen. Er erhält drei Körbe mit Wissen, zusammen mit zwei heiligen Steinen. Diese Steine, deren Namen Hukatai (Meeresschaum) und Rehutai (Meeresgischt) eine Anspielung auf das Meerwasser sind, erleichtern die Aufnahme dieses Wissens, damit der Empfänger Weisheit erlangen kann.
In der islamischen Tradition glaubt man, dass al-Khidr göttliche Weisheit besitzt. Er wird insbesondere mit Seefahrern in Verbindung gebracht, denen er göttliche Geheimnisse offenbaren soll.3
Ebenso gibt es Überlieferungen, in denen Flüsse vorkommen, deren Wasser mit Wissen assoziiert wird. In der keltischen Mythologie stillt Danu, die Göttin der Flüsse und anderer großer Gewässer (nach der auch die Donau benannt ist), als oberste Matriarchin die Götter und schenkt ihnen auf diese Weise Weisheit und Wissen. Bei den Kelten gibt es die irische Sage vom Lachs des Wissens, der, nachdem er einen heimischen Fluss hinaufgeschwommen ist und in einem ruhigen Teich Unterschlupf findet, alles Wissen der Welt verschlingt, das in herabfallenden Nüssen naheliegender Haselnussbäume enthalten ist.
Neith, eine frühe altägyptische Göttin, wird ebenfalls mit Flüssen und Weisheit in Verbindung gebracht. In sumerischen Sagen ist Enki der Anunnaki-Gott der Weisheit und des (frischen) Wassers. Laut einigen mythologischen Erzählungen hat er eine Tochter, Inanna (die spätere akkadische Ishtar), die vermutlich mit späteren Göttinnen des Wassers und der Weisheit in dieser Region in Beziehung steht: der altpersischen Göttin Anahita und der armenischen Göttin Annahit. Ein weiteres Beispiel aus der indisch-iranischen Tradition, in dem Wasser mit Weisheit gleichgesetzt wird, ist Ahurānī, eine zoroastrische Wassergöttin, die das Denken, Sprechen und Handeln erleuchtet.
Diese Überschneidung von Wasser und Wissen ist auch bei der hinduistischen Göttin und Flussgottheit Saraswati zu erkennen. Sie wird mit der persischen Anahita in Verbindung gebracht und ist die Göttin des Wissens, der Weisheit und des Flusses Saraswati. Das der Göttin zugeordnete Wasser des Flusses wird nicht nur als ihr „ureigenes Wesen“ beschrieben, sondern auch als „Symbol für inspiriertes Denken“. Auf Bali, Indonesien, ist sie mit dem traditionellen Ritual Banyu Pinaruh verbunden. Das Ritual, dessen Name sich vonbanyufür „heiliges Wasser“ undpinaruhfür „Wissen“ ableitet, ehrt das heilige Wasser des Wissens.
In den vedischen Texten gilt Wasser ganz allgemein als Mittel zur Erlangung spiritueller Erleuchtung, was auch an die Rituale der Taufe und ähnliche Traditionen in anderen Kulturen erinnert. Die japanische buddhistische Göttin Benzaiten, die auf Saraswati zurückgeht, ist die Göttin für alles, was fließt – ein Konzept, das sowohl Wasser als auch Wissen einschließt.
Dies sind nur einige Beispiele aus einer Vielzahl von Überlieferungen, in denen Wasser als Quelle des Wissens beschrieben wird – und zwar explizit nicht allein des reinen Faktenwissens, sondern auch der Weisheit, der Einsicht und der Erleuchtung.4
Wir stellen zunehmend fest, dass die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft die Gültigkeit alter Überlieferungen bestätigen. Das gilt auch für den tradierten Glauben, dass Wasser Informationen enthalte.
In der wissenschaftlichen Debatte wird die Annahme, dass Wasser Informationen speichern und übertragen könne, als „Wassergedächtnis“ bezeichnet. Im engsten Sinne bezieht sich das auf „die Fähigkeit des Wassers, die ‚Erinnerung‘ an zuvor darin gelöste Stoffe zu bewahren, selbst wenn der Verdünnungsfaktor so hoch ist, dass kein Molekül dieses Stoffes mehr in der Lösung enthalten ist“.5
Ein solches Molekulargedächtnis ist jedoch nur ein Aspekt im populärwissenschaftlichen Gebrauch des Wortes. Wenn man von der Fähigkeit des Wassers spricht, Wissen zu speichern und weiterzugeben, sind auch Informationen energetischer Art gemeint: unsere Emotionen, Gedanken und Gefühle bis hin zu den Vorstellungen von Weisheit und Erleuchtung, die uns bereits in den aufgeführten Mythen und Glaubensvorstellungen begegnet sind.