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Psychopharmaka und die Priesterschaft der Gehirnwäsche

Früher Pharmasetzte die Psychopharmaka-Industrie auf Überredung und Glauben, um ihre Diagnosen und Tabletten zu verkaufen. Heute jedoch verfolgt sie, unterstützt von Gesundheitsbehörden und dem neuen Handbuch der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (APA), eine Strategie von Zwang und Verordnungen, um neue Krankheiten zu erfinden, für die noch mehr Medikamente benötigt werden.


Von der Überredung zum Zwang

Der „psychopharmazeutische Komplex“1– bestehend aus der modernen Psychiatrie, der pharmazeutischen Industrie und dem willig entgegenkommenden aufsichtsbehördlichen Apparat – stützt sich auf den Glauben der Öffentlichkeit an seine medizinwissenschaftliche Expertise und seine durch Marketingmaßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit konstruierte Legitimation. Dank einer Kombination aus stärkerer staatlicher Einmischung in den Medizinsektor durch das amerikanische Affordable-Care-Gesetz, der Veröffentlichung des neuen, erweiterten diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Störungen (DSM-V, Version 5), das 2013 von der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung herausgegeben werden soll, sowie einem umfassenderen System von bundesstaatlichen Gesundheitsüberwachungsmaßnahmen und biometrischen Identifizierungs-Technologien, zeichnet sich heute bereits ab, dass die von der Psychiatrie aufgestellten Verhaltensnormen und Protokolle mehr und mehr im Alltagsleben durchgesetzt werden. Alles in allem scheint der psychopharmazeutische Komplex entschlossen, sein früheres Paradigma von Überredung und Glauben aufzugeben und sich einer Strategie zu verschreiben, die unter anderem zu Zwang und Verordnungen greift, um ein bestimmtes Ideal von Normalität durchzusetzen.

„Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, die Welt durch sein Denken zu erfassen, im Gegensatz zur Intelligenz, welche man als die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, die Welt mithilfe seines Denkens zu manipulieren. Die Vernunft ist das Werkzeug, das den Menschen zur Wahrheit führt, die Intelligenz ist das Werkzeug des Menschen, das ihn die Welt erfolgreicher manipulieren lässt; erstere ist zutiefst menschlich, letztere gehört zum animalischen Teil des Menschen.“

Erich Fromm

Mit seinen psychotropen Drogen, die in der Öffentlichkeits- und Marketingarbeit seither im Mittelpunkt stehen, glückte dem psychopharmazeutischen Komplex in den 1950er Jahren der große Wurf. Die weite Verbreitung und Verwendung solcher Substanzen gelangen aufgrund des konditionierten kulturellen Gehorsams gegenüber wissenschaftlichem Sachwissen und mithilfe breit angelegter Werbe- und Meinungsbildungsmaßnahmen.

Zwanzig Prozent der Amerikaner nehmen heute mindestens eine Tablette zur Behandlung einer oder mehrerer psychischer Störungen. Bei den Frauen und Kindern unter zehn Jahren hat sich der Konsum zwischen 2001 und 2010 verdoppelt.3 Die Klasse der Antidepressiva, die selektive Serotonin-Wiederauffassungsvermögen-Hemmstoffe (ASWHem) enthalten, wie beispielsweise Zoloft®, Celexa®, Effexor® oder Paxil®, gehört nach Angaben der Zentren für Gesundheitsfürsorge (CDC) zu den am häufigsten verschriebenen Tabletten. Immerhin elf Prozent der über 12-jährigen Amerikaner werden damit behandelt.4

Psychiater und Allgemeinärzte verschreiben großzügig Pharmazeutika, um Krankheiten zu behandeln, die im diagnostischen und statistischen Handbuch für psychische Störungen definiert sind. Dadurch schwingt sich der Stand der Psychiater zur weltweiten Autorität auf, die bestimmt, was unter einer psychischen Erkrankung zu verstehen ist. Psychiater haben eine unüberschaubare Vielzahl von Verhaltensweisen identifiziert, unter die sich tausende von subjektiv gedeuteten Verhaltensanomalien subsumieren lassen. Nach Angaben der CDC empfiehlt die amerikanische psychiatrische Vereinigung die Verschreibung von Antidepressiva für einen Großteil der angeblichen Krankheiten, die unter den Begriff „mäßige bis schwere depressive Symptomatologie“ fallen. Doch hat es, wie der Historiker David Healy anmerkt, das DSM-4

„praktischerweise unmöglich gemacht, die Abhängigkeit von ASWHems, Antipsychotika oder Benzodiazepinen selbst als Krankheit zu definieren“.5

Zwischen 1988–1994 und 2005–2008 stieg der Konsum von Antidepressiva in den USA um nahezu 400 Prozent an.6 Sollte der Konsum weiterhin einer solch steilen Entwicklungskurve folgen, dann würden in den frühen 2020er Jahren bereits zwei von fünf Personen Antidepressiva einnehmen. Der Verkauf von Antidepressiva erreichte in den USA im Jahr 2003 mit 15 Milliarden Dollar Umsatz seinen Höhepunkt. Doch könnten das Ablaufen von Medikamentenpatenten, die Unfähigkeit der Pharmaindustrie an deren Stelle neue „Renner“ auf den Markt zu werfen und die zunehmenden Berichte über die Nutzlosigkeit oder gar Schädlichkeit solcher Medikamente dazu führen, dass der Umsatz bis zum Jahr 2016 auf sechs Milliarden Dollar absackt.7

Das Ansteigen des Antidepressiva-Konsums um das Vierfache macht deutlich, dass „Depressionen“ und die Einführung von ASWHems für die Pharmaunternehmen zweifellos ein wahrer Segen waren und sind. Doch warum Depressionen und Antidepressiva so selbstverständlich ins Denken der Allgemeinheit Einzug halten konnten, ist ein viel seltener hinterfragtes soziales Phänomen.

Pharmaunternehmen üben eine gewaltige Macht auf die Meinungsbildung und den Glauben aus. Dazu bedienen sie sich eines sorgfältig ausgetüftelten Systems von Werbemaßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit, das die oftmals nutzlosen oder gefährlichen Produkte, die sie verkaufen, in den Hintergrund treten lässt.8 Solche Ergebnisse lassen sich erzielen, weil eine kulturelle Neigung besteht, sich Expertenmeinungen unterzuordnen – in diesem Fall denen der Psychiatrie.

Wie man einen Berufsstand konstruiert

2006 führte der investigative Journalist Jon Rappoport eine Reihe von Interviews mit einem hochrangigen Experten für Öffentlichkeitsarbeit, der sich unter dem Decknamen Ellis Medavoy präsentierte. Dieser hatte bei der Koordination und Manipulation der öffentlichen Meinung in Bezug auf große Gesundheitskrisen wie beispielsweise HIV / AIDS eine tragende Rolle gespielt. In seinen enthüllenden Äußerungen machte der PR-Mann deutlich, dass psychiatrische Sachkenntnis im Wesentlichen das Ergebnis von Propagandatechniken ist.

„Problem ist gleich psychische Störung ist gleich Diagnose ist gleich Medikament“, erklärte Medavoy. „Die PR-Aufgabe besteht darin, das zu verschleiern und das Ganze in einen wissenschaftlich klingenden Kontext zu stellen. Dazu streut man noch alles Mögliche über ‚die Forschung‘ mit ein – und schon hat man eine Industrie geschaffen. Genauer betrachtet hat man allerdings eine Priesterschaft der Gedankenkontrolle ins Leben gerufen. Eine offizielle Priesterschaft, eine Priesterschaft mit Lizenz. Auch diese Tatsache vermarktet man, natürlich mit anderen Worten. Man verkauft das im wahrsten Sinne des Wortes. ‚Niemand weiß etwas über die Psyche. Dieses Wissen haben nur die Psychiater.‘ Man verkauft Dinge wie: ‚braucht professionelle Hilfe‘, ‚unterzieht sich einer Behandlung‘, ‚neuer Durchbruch‘ und ähnlichen Unfug. Man verkauft das auf jede nur erdenkliche Art und Weise.“9

Will man ein öffentliches Glaubensbekenntnis zu der zweigesichtigen Gottheit Pharmazie und Psychiatrie konstruieren, so gilt es, bestimmte für das Werbe- und PR-Geschäft typische Verfahrensweisen zu beachten. Beispielsweise ersinnen Linguistik-Experten Markennamen, die auf

„verschiedene Synapsen im Gehirn ihrer Kunden zugreifen, welche die einfachen Klänge der Vokale und Konsonanten zu sogenannten Phonemen zusammenfügen und mit bestimmten Bedeutungen oder auch Emotionen verbinden.“10

Auf genau diese Weise kam der Name für das erste archetypische ASWHem-Medikament zustande. Der Name Prozac® wurde konzipiert, um im Kopf des Kunden eine bestimmte Resonanz auszulösen.

„Prozac: Pro mag noch ein relativ schwerfälliger Anfang sein, doch die Buchstaben p, z und k sind Volltreffer, wenn es um Qualitäten wie aktiv / wagemutig geht. Diese knisternden, summenden Laute suggerieren unterschwellig Aktivität und unterstützen damit die Sequenz ac, die an das Wort Aktion anklingt.“

Der Name von Prozacs engem Verwandten Zoloft war ebenfalls das Ergebnis angewandter linguistischer Ingenieurskunst.

„Zoloft: Zo bedeutet im Griechischen Leben und loft erhebt das Konzept in luftige Höhen.“11

Japan ist der weltweit drittgrößte Markt für Pharmazeutika. Das Beispiel dieses Landes veranschaulicht, wie es der Pharmaindustrie gelang, eine Gesellschaft so zu manipulieren und zu verführen, dass sie bestimmte psychoaktive Substanzen in großen Mengen zu sich nimmt. Im Jahr 1988 lockerte das Land die Kontrollbestimmungen für den Verkauf und die Bewerbung von Medikamenten. 2001 boomte die direkt an den Verbraucher gerichtete Medikamentenwerbung amerikanischen Stils, und amerikanische Firmen kontrollierten nahezu 50 Prozent von Japans pharmazeutischen Umsätzen in Höhe von 364,2 Milliarden Dollar. Die wachsende Popularität und Verfügbarkeit von medizinischen Markenprodukten in einem nicht-westlichen kulturellen Milieu bereitete den Weg für Verkaufsstrategien, die sich brüsk über kulturelle Grenzen hinwegsetzten und die öffentliche Wahrnehmung so drehten, dass Nachfrage erzeugt wurde.

In den 1980er Jahren, als das japanische Pharmaunternehmen Meiji Seika kurz davor stand, mit Zustimmung der Kontrollbehörden ein Medikament zur Behandlung von Zwangsneurosen (OCD) auf den Markt zu bringen, stellten die Firmenmanager fest, dass es in Japan gar keine Standarduntersuchungen für die Diagnose von Zwangsneurosen gab. Das Unternehmen fertigte daher kurzerhand selbst eine schriftliche Definition an, für die ihm amerikanische Beschreibungen als Vorlage dienten. In den späten 1990er Jahren hob Meiji Seika diese Praxis auf eine völlig neue Stufe, als das Unternehmen das kontrollbehördliche „Okay“ für den Verkauf seines eigenen ASWHem-Medikaments mit dem Namen Luvox® erhielt.12 Nachdem es die Genehmigung erhalten hatte, focht die Firma einen harten Kampf aus, um das Medikament in einem Land akzeptabel zu machen, in dem nach einer von der Weltgesundheitsorganisation in den frühen 1990er Jahren durchgeführten Umfrage bei „Stimmungsstörungen“ am häufigsten ein mildes Beruhigungsmittel verschrieben wurde.13 Angesichts dessen bewirkten Meiji Seika und einige andere interessierte Konzernpartner „nichts Geringeres als einen umfassenden kulturellen Wandel“, wie ein Beobachter es beschrieb.

„Ein wichtiger Schritt: Veränderung der Sprache, die die Menschen verwenden, wenn sie sich über Depression unterhalten. Das japanische Wort für eine klinische Depression, utsu-byo ließ die Assoziation mit schweren psychiatrischen Erkrankungen aufkommen. Also begannen Meiji und Partner damit, den Satz kokoro no kaze einzuführen, was frei übersetzt so viel bedeutet wie: ‚Die Seele holt sich eine Erkältung.‘ Die Botschaft: Wenn Sie Tabletten einnehmen, um im Winter eine verstopfte Nase zu kurieren, warum behandeln Sie Ihre Depression dann nicht genauso?“

Der Marketing-Direktor bei Meiji sagte, dass er regelmäßig den Satz kokoro no kaze verwendete, wenn er japanischen Reportern erklärte, „warum das Tabu, das diese Krankheit umgab, aufgehoben werden sollte.“14

Amerika war Japan weit voraus, was die Anerkennung von Pharmazeutika zur Behandlung psychischer Erkrankungen anbelangte. Die Vorstellung, dass Depressionen potenziell epidemischen Charakter haben und der „Behandlung“ bedürfen, wurde bereits einige Jahre vor der Einführung des äußerst populären ASWHem-Medikaments Prozac im Jahr 1988 ins öffentliche Denken eingepflanzt. Dennoch bedurfte dieses Konzept der kontinuierlichen Bestärkung. Das galt auch für das fragliche System der „Untersuchungen“, um potenziell schädliche „Stimmungen“ oder Verhaltensweisen aufzuspüren, eine Praxis, die derzeit in einigen amerikanischen Gesundheitszentren Anwendung findet. Dabei werden die Klassifizierungen des diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Störungen, Version 5, zugrunde gelegt.

Die Architektur des Überwachungsapparates

„Die Wissenschaft verfügt über keine Technologien, um in einem lebenden Gehirn biochemische Unausgewogenheiten feststellen zu können“, bemerkte der Arzt und Autor Peter R. Breggin, MD. „Die Spekulation, dass ein solches biochemisches Ungleichgewicht bestünde, ist tatsächlich nichts weiter als eine Verkaufsstrategie der Arzneimittelfirmen, um Medikamente zu verkaufen.“15

Deshalb fehlen bei „Untersuchungen“ der psychischen Gesundheit sowohl der objektive wissenschaftliche Maßstab als auch die körperlichen Parameter, um das Vorhandensein von Störungen feststellen zu können. Stattdessen basieren Gutachten auf den Antworten des Untersuchten zu einer Reihe von gestellten Fragen.

In den letzten Jahren wurden allen Ernstes Marketingmethoden an amerikanischen Colleges angewendet, um eine Generation so zu konditionieren, dass sie Untersuchungen der psychischen Gesundheit als Routineangelegenheit akzeptiert. In den frühen 2000er Jahren sponserte Wyeth, der Hersteller des Antidepressivums Effexor, „Erziehungskampagnen für psychische Gesundheit“ an zehn Colleges. Das 90-minütige Programm mit dem Titel „Depression auf dem College: Die reale Welt, das reale Leben, die realen Probleme“ wurde in den Filmsälen der Hochschulen vorgeführt und von der MTV-Berühmtheit und Effexor-Konsumentin Cara Kahn präsentiert. Die zu dem Programm gehörende „Untersuchung“ auf Depressionen, die heute alltäglicher Bestandteil der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ist, wurde mit aufmunternden Slogans wie „Gestresst? Finden Sie heraus, wie sehr“ oder „Kommen Sie und lassen Sie Ihre Stimmung testen“ propagiert. Vertreter der Branche konnten feststellen, dass solche Aufforderungen bei potenziellen Teilnehmern auf ein stärkeres Interesse stießen als das eher prosaisch klingende „Untersuchung auf Depression“.16

Wenn die Anziehungskraft psychotroper Rezepturen nachlässt, was einige der aktuellen Branchen- und Markttrends vermuten lassen, wird es entscheidend wichtig – mit welchen Mitteln auch immer – ein neues Bedürfnis nach entsprechenden Therapien und Produkten der Pharmaindustrie zu erzeugen. Die befürchtete Flaute bei den Verkäufen von Antidepressiva und die gleichzeitige weitläufige Akzeptanz, auf die Psychiater bei westlichen Regierungen treffen, wenn sie sich in ihrer oberflächlichen Art über abweichende menschliche Verhaltensweisen und deren Behandlung auslassen, vermögen sehr gut zu erklären, warum in letzter Zeit wie wild Studien publiziert werden, in denen von einer wachsenden Epidemie psychischer Erkrankungen die Rede ist und warum staatliche Programme aufgelegt werden, die obligatorische Untersuchungen der psychischen Gesundheit bei Jugendlichen und die dazugehörigen Behandlungen vorsehen.

Was genau macht eine psychische Störung aus, die einer Behandlung bedarf? Das bald erscheinende diagnostische und statistische Handbuch für psychische Störungen, Version 5, bietet ein Sammelsurium von Eigenartigkeiten, die uns als Hinweise dafür dienen können, wonach bei solchen Untersuchungen in Zukunft gesucht werden soll. Ein Mensch, der sich darüber auslässt, dass er gelegentlich eine Zigarette genießt, wird die Diagnose erhalten, dass er an einer „Tabakmissbrauchs-Störung“ leidet.

Ein Mensch, der in Gesellschaft ab und an ein Gläschen trinkt, wird mit dem Etikett „Alkoholmissbrauchs-Störung“ versehen werden. Einem Menschen, der regelmäßig zu viele Tassen Kaffee oder Eistee trinkt, könnte eine „Koffeinvergiftung“ oder schlimmer noch eine „Koffeininduzierte nervöse Störung“ bescheinigt werden. Wer zu häufig im Netz surft, Spiele- oder Pornoseiten besucht oder zu oft einkaufen geht, wird vielleicht als „internetsüchtig“, „spielsüchtig“, „hypersexuell“ oder „kaufsüchtig“ bezeichnet und entsprechend medikamentös therapiert werden.17

Je weiter sich die Psychiatrie unter staatlichem Schutz ausbreitet, besteht zudem durchaus die Möglichkeit, dass politische Dissidenten im sowjetischen Stil mundtot gemacht werden, wie der jüngste Fall des amerikanischen Marinesoldaten Brandon Raub zeigt.18

Beharrt man hartnäckig darauf, dass Wettermanipulationen stattfinden oder diskutiert man über den nicht zu erklärenden Einsturz von Gebäude 7 des World Trade Centers am 11. September, so könnte das für die Diagnose „paranoide Wahnvorstellungen“ ausreichen. Aktivisten, die dazu ansetzen, auf die fragwürdigen Begründungen für den „Krieg gegen den Terror“, die Federal Reserve Bank oder den überbordenden Polizeistaat aufmerksam zu machen, könnten nur allzu leicht die Diagnose „oppositionelles Trotzverhalten“ erhalten.

Da somit eine breite Auswahl an Krankheiten zur Verfügung steht, die der subjektiven Auslegung des jeweiligen Psychiaters unterliegen, kann nahezu jeder in den Radar des psychopharmazeutischen Kartells gelangen, besonders wenn dieser seine Arme nach jüngeren Altersgruppen ausstreckt.

„Das [Affordable-Care-Gesetz] ist darauf angelegt, bessere Anreize für Ärzte und andere im Bereich Gesundheit und psychische Gesundheit tätige Berufsgruppen zu schaffen, sich bei der Behandlung von Menschen des gesamten Spektrums von Behandlungsmöglichkeiten zu bedienen“, betont der Psychologe John M. Grohol, Herausgeber der beliebten Website PsychCentral. „Forschungsergebnisse belegen, dass diese Art integrierter, koordinierter Versorgung dem Patienten letztlich zugutekommt. So können Gesundheitsprobleme aufgedeckt werden, ehe sie sich zu ernsten Störungen auswachsen.“19

Die wachsende Epidemie psychischer Erkrankungen beziehungsweise die Behauptung der psychiatrischen Berufsgruppe, dass es eine solche gäbe, hat ernste Folgen nicht nur für den persönlichen Kummer des Einzelnen, sondern auch für ganze Wirtschaftsregionen.

Experten für psychische Gesundheit behaupten, dass nahezu 40 Prozent der Europäer psychisch krank seien, ein Problem, das die europäische Wirtschaft jährlich einige Hundert Milliarden Euros kostet. Eine Studie aus dem Jahr 2011 kommt zu dem Schluss, dass 165 Millionen Bürger der Europäischen Union an irgendeiner psychischen Erkrankung leiden.

„Die immense Lücke […] bei der Behandlung psychischer Erkrankungen muss geschlossen werden“, behauptet die Verfasserin der Studie. „Da psychische Störungen häufig schon früh im Leben beginnen, haben sie massive negative Auswirkungen auf das spätere Leben […] Nur die gezielte Behandlung junger Menschen kann wirksam das Risiko ausschließen, dass es in der Zukunft eine zunehmend größere Zahl schwerkranker Patienten geben wird.“20

In den Vereinigten Staaten, in denen das „Affordable Care“-Gesetz „die Wichtigkeit einer integrierten und koordinierten Zusammenarbeit der physischen und psychischen Gesundheitsdienste“ betont, und „Anreize für Behandler“ schafft, „integrierte Behandlungssysteme anzuwenden“,21 wird ein Patienten, der eine Klinik aufsucht, um sich wegen einer Krankheit oder Verletzung körperlich untersuchen zu lassen, immer häufiger einer Untersuchung und Beurteilung nach den Standards des diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Störungen unterzogen, besonders dann, wenn er privatversichert ist.

Der Bericht der Gesundheitszentren über die Überwachung der psychischen Gesundheit aus dem Jahr 2011 betont, dass 25 Prozent der Amerikaner psychisch krank sind und einer von zwei Amerikanern im Laufe seines Leben eine psychische Erkrankung erleiden wird.

Also soll ein Programm „öffentlicher Gesundheitsüberwachung“ aufgelegt werden, an dem „Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Akademiker, Therapeuten und Lobbygruppen“ mitarbeiten, um „verschiedene Überwachungssysteme“ ins Leben zu rufen, die das Auftreten, die Häufigkeit, die Schwere und die wirtschaftlichen Auswirkungen psychischer Krankheiten verringern helfen […]; die Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und anderen chronischen Zuständen (wie beispielsweise Fettleibigkeit, Diabetes, Herzerkrankungen oder Alkohol- und Substanzmissbrauch) aufdecken; Bevölkerungsgruppen identifizieren, die einem besonders hohen Risiko psychischer Erkrankungen ausgesetzt sind und für diese gezielte Interventions-, Behandlungs- und Vorsorgemaßnahmen vorsehen; sowie Ergebnisparameter erstellen, um Interventionen bei psychischen Erkrankungen beurteilen zu können.“22

Im Rahmen des Projektes wird das diagnostische und statistische Handbuch für psychische Störungen zur Identifizierung und Diagnose solcher Erkrankungen herangezogen werden.

Die CDC merken an anderer Stelle an, dass sich die

„Wichtigkeit, die Behandlungsraten bei Depressionen im Interesse der öffentlichen Gesundheit zu erhöhen, in dem Programm ,Healthy People 2020‘ spiegelt – einem Zehnjahresplan des Gesundheitsministeriums, das sich die verstärkte Behandlung von Depressionen bei Erwachsenen und die Behandlung psychischer Gesundheitsstörungen bei Kindern auf die Fahnen geschrieben hat.“

Zur Unterstützung dieses Programms hat die US-Regierung ein Präventions-Gremium geschaffen, das „Untersuchungen der psychischen Gesundheit“ bei Kindern im Alter von 12 bis 18 Jahren empfiehlt. Ebenso wie das Programm zur Überwachung der psychischen Gesundheit verwendet auch dieses Gremium das diagnostische und statistische Handbuch für psychische Störungen als Schablone für die Stellung von Diagnosen.23

Schlussfolgerung

Angesichts der Tatsache, dass der amerikanische Staat und die Versicherungsindustrie sich gemeinhin dem Ziel verschrieben haben, die Risiken zu mindern, die nach den Klassifizierungen des diagnostischen und statistischen Handbuchs für psychische Störungen mit Myriaden menschlicher Verhaltensweisen einhergehen, sollten sich der Einzelne und die Gesellschaft insgesamt fragen: „Wo hört diese Überwachung auf?“

Zurzeit kann der Einzelne noch in gewissem Umfang entscheiden, welche gesundheitlichen Informationen er dem medizinischen Überwachungsapparat enthüllen möchte. Doch der zunehmende Einsatz biometrischer Technologien und die rasche Entwicklung hin zur elektronischen, „bargeldlosen“ Abwicklung finanzieller Transaktionen als Norm lassen das Ende dieser bescheidenen kleinen Privatsphäre befürchten und die vollständige Verwirklichung eines weitreichenden panoptischen Netzwerkes erahnen, durch welches persönliche Eigenarten aufgefunden und identifiziert werden können, um so Kandidaten für „Eingriffe“ und Behandlungen zu schaffen.

Um den psychopharmazeutischen Komplex mit seinem ständig wachsenden Zugriff auf die Gesellschaft an den Pranger zu stellen und sich ihm zu widersetzen, wird es von entscheidender Wichtigkeit sein, sich vor Augen zu führen, dass dieser Komplex stets durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit darauf hingearbeitet hat, eine bestimmte öffentliche Meinung zu konstruieren und damit das geschaffen hat, was man heute als die gemeinhin akzeptierten Glaubensstandards bezüglich psychischem Wohlbefinden beziehungsweise Krankheit betrachtet. Die Tatsache, dass sich dieses Kartell nun noch stärker auf die Strukturen des staatlichen Gesundheitswesen stützen kann und selbst zur zentralen Komponente der staatlich kontrollieren medizinischen Strategie geworden ist, lässt vermuten, dass sich eine vollumfängliche pharmakologische Technokratie etablieren wird, die durch fortgesetzte Verführung der Massen und staatliche Edikte, Scheinbehandlungen und Scheinmedikamente das Vakuum einer verfehlten, unerfüllten Existenz zu füllen sucht.

Endnoten

  1. Peter R. Breggin verwendete diesen Begriff erstmalig in seinem Buch „Brain-Disabling Treatments in Psychiatry: Drugs, Electroshock, and the Psychopharmaceutical Complex“ (New York: Springer Publishing Company, 2007).
  2. Fromm, Erich: „The Sane Society“ (New York: Rinehart and Company, 1955), S. 64
  3. Roan, S.: „One in Five US Adults Takes Medication for Medical Disorder“ inLos Angeles Times, 16.11.2011; http://tinyurl.com/7qusku3
  4. Pratt, L. A. et al.: „Antidepressant Use in Persons Aged 12 and Over: United States, 2005-2008” (Hyattsville, MD, USA: National Center for Health Statistics, 2011) , NCHS-Datenveröffentlichung Nr. 76; http://tinyurl.com/3swqdfa
  5. Healy, D.: „The Creation of Psychopharmacology“ (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2002), S. 66f.
  6. Pratt, L. A. et al.: „Antidepressant Use …“
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  8. Goldacre, B.: „The Drugs Don’t Work: A Modern Medical Scandal” inThe Guardian, Vereinigtes Königreich, 21.9.2012; http://tinyurl.com/9f3qkcg
  9. Rappoport, J.: „An Interview with Ellis Medavoy (alias) About Power“, in „The Matrix Revealed”, Bd. 1 (CD), 2012, http://nomorefakenews.com/
  10. Begley, S.: „What Goes Into A Brand Name? A Letter at a Time” inThe Wall Street Journal, 31.8.2002, S. D1; „StrawBerry Is no BlackBerry: Building Brands Using Sound” inThe Wall Street Journal(online), 26.8.2002; http://tinyurl.com/8l6fdbb. Der Abschnitt ist entnommen aus einem Diskurs in James F. Tracys „Between Discourse and Being: The Commodification of Pharmaceuticals in Late Capitalism“ inThe Communication Review, 2004, 7(1):15-34.
  11. Begley, ebd.
  12. Landers, P.: „Drug Companies Push Japan to Change View of Depression“, inThe Wall Street Journal, 9.10.2002, S. A1
  13. Healy, D.: „The Creation of …“, S. 66f.
  14. Landers, P.: „Drug Companies…“
  15. Breggin, P. R.: „The Anti-depressant Fact Book: What Your Doctor Won’t Tell You About Prozac, Zoloft, Paxil, Celexa and Luvox“ (Cambridge, MA: Perseus Books, 2001), S. 135
  16. Glader, P., „From the Make of Effexor: Campus Forums on Depression“ inWall Street Journal, 10.10.2002, S. B1
  17. Lane, C.: „Bitterness, Compulsive Shopping, and Internet Addiction: The diagnostic madness of DSM-V“ auf Slate.com, 24.7.2009; http://tinyurl.com/9y7caom; MacGregor, L. / Reuters: „Digital Age Overload: ,Internet Addiction‘ to be Classified as Mental Illness” aufRT.com,1.10.2012; http://bit.ly/U45nw0
  18. Kelley, M.: „Marine Veteran Brandon Raub Sentenced to Up to 30 Days in Psych Ward for Facebook Posts“ inBusiness Insider, 20.8.2012; http://tinyurl.com/bwtjtrm
  19. Grohol, J. M.: „What the Affordable Care Act Means to Mental Health“ aufPsychCentral, 29.6.2012; http://tinyurl.com/92zmeyi
  20. Kelland, K.: „Nearly 40 Percent of Europeans Suffer Mental Illness“ aufReuters.com, 4.9.2011; http://tinyurl.com/3dqpn6j
  21. Friedman, M., Williams, K.: „Supreme Court Decision Benefits People with Mental Illness“ inHuffPost Healthy Living, 29.6.2012; http://tinyurl.com/969amvu
  22. Reeves, W. C. et al.: „Mental Illness Surveillance Among Adults in the United States”, Centers for Disease Control, Public Health Surveillance Program Office, 2.9.2011, 60(3):1-32; http://tinyurl.com/csch69m
  23. Pratt, L. A. et al.: „Antidepressant Use …“