NEXUS Magazin: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/nur-keinen-aufstand-psyops-das-internet-und-die-jagd-auf-ihr-gehirn-teil-1
Wer in der Historie von Datenkraken wie Google oder Facebook buddelt, muss sich zwicken: Nicht nur die Anstoßfinanzierungen kommen von Geheimdiensten und Militär, auch die Ideen sind geklaut. So gab es etwa das DARPA-Projekt LifeLog, ein permanentes durchsuchbares elektronisches Tagebuch für jedermann, das just in dem Jahr eingestellt wurde, als Facebook auf den Markt kam. Auch andere Big-Data-Projekte wie das IAO oder MDDS verschwanden seltsamerweise parallel zum Wachstum des Silicon Valley.
Hinter all dem steckt ein Puzzle aus PsyOps und Sozialingenieurskunst – Dustin Broadbery versucht, die Teile in diesem Zweiteiler zusammenzusetzen.
Hinweis d. Red.: Die zweiteilige Version des Artikels von Dustin Broadbery können Sie hier herunterladen und gern weiterverbreiten.
Als die digitale Revolution Mitte der 1990er-Jahre angelaufen war, entwickelten die Forschungsabteilungen von CIA und NSA Programme, um die Nützlichkeit des World Wide Web als Instrument zur Erfassung von sogenannten „Birds of a Feather“-Gruppierungen zu prognostizieren. Die englische Wendung, die sich in der deutschen Redensart „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ wiederfindet, wurde von Vogelschwärmen inspiriert, die sich plötzlich in rhythmischen Mustern gemeinsam bewegen.
Die Geheimdienstler interessierten sich vor allem für die Frage, wie diese Prinzipien die gemeinsame Bewegung von Menschen im aufkommenden Internet beeinflussen würden: Sollten sich Gruppen und Gemeinschaften tatsächlich wie Vogelschwärme verhalten, sodass man sie organisiert beobachten und verfolgen konnte? Und wenn sich ihre Bewegungen indizieren und aufzeichnen ließen – könnte man die betreffenden Personen später anhand ihrer digitalen Fingerabdrücke identifizieren?
Um diese Fragen zu beantworten, riefen CIA und NSA eine Reihe von Initiativen unter der Sammelbezeichnung Massive Digital Data Systems (MDDS)1 ins Leben, die aufstrebende Unternehmer im Technologiesektor über ein universitätsübergreifendes Ausschüttungsprogramm finanzieren sollte. Die erste nicht geheime Einweisung für Computerwissenschaftler erhielt den Namen „Birds of a Feather“ und fand im Frühjahr 1995 im kalifornischen San José statt.
Die „Gleich und gleich gesellt sich gern“-Theorie sollte durch die Einrichtung einer umfangreichen digitalen Bibliothek samt Indexierungssystem auf Basis des Internets weiterentwickelt werden. Zu den ersten Zuschussempfängern des Programms gehörten zwei Doktoratsstudenten der Stanford University namens Sergey Brin und Larry Page. Die beiden hatten bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung einer Technologie zur Bestimmung der Relevanz und des Rankings von Websites gemacht, mit der sich die Onlineaktivitäten der Nutzer verfolgen ließen.
Diese Ausschüttungen – plus 4,5 Millionen Dollar2 in Form von Zuschüssen eines Konsortiums aus mehreren Behörden wie NASA und DARPA – bildeten die Startfinanzierung für Google.3
Später wurde MDDS in die weltweiten Abhör- und Data-Mining-Aktivitäten der DARPA integriert, mit denen man eine totale Informationsüberwachung der US-Bürger anstrebte. Nur wenige Menschen verstehen das Ausmaß, in dem Silicon Valley das Alter Ego des Pentagons ist; und noch weniger erkennen die Auswirkungen, die das auf den sozialen Bereich hatte. Doch diese Geschichte beginnt nicht mit Google oder dem militärischen Ursprung des Internets, sondern reicht viel weiter zurück, bis zu den Anfängen der Aufstandsbekämpfung und der psychologischen Operationen – PsyOps – im Zweiten Weltkrieg.
Der Historikerin Joy Rohde zufolge sagte ein renommierter Physiker im Jahr 1961 zu US-Verteidigungsminister Robert McNamara:
„Den Ersten Weltkrieg könnte man als Krieg der Chemiker und den Zweiten Weltkrieg als Krieg der Physiker betrachten, doch der Dritte Weltkrieg […] muss wohl als Krieg der Soziologen gelten.“4
Die Schnittstelle zwischen der Soziologie und den Militärgeheimdiensten wurde von der US Army bereits während des Ersten Weltkriegs erkannt, als der vor dem Krieg als Journalist aktive Captain Heber Blankenhorn die Psychologische Unterabteilung im Kriegsministerium der Vereinigten Staaten zur Koordination der Kampfpropaganda gründete.
Diese sogenannten Grauzoneneinsätze erreichten ihren Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg, als Militärstrategen, aufbauend auf den während des Krieges durchgeführten Forschungen zur Massenpsychologie,5 über das Amt für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung (OSRD) Sozialwissenschaftler in die Kriegsanstrengungen einbanden. Das OSRD sammelte Informationen über das deutsche Volk und entwickelte Propaganda und Operationen der psychologischen Kriegsführung (PsyOps), um dessen Moral zu senken. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Jahr 1942, als die amerikanische Bundesregierung zum führenden Arbeitgeber von Psychologen in den USA wurde.
Das OSRD verwaltete anfangs das Manhattan-Projekt und war für wichtige technische Entwicklungen während des Kriegs – zum Beispiel das Radar – verantwortlich. Geleitet wurde die Behörde vom Ingenieur und Erfinder Vannevar Bush. Bush war ein Hauptakteur in der Geschichte der Computertechnik und ist für sein Konzept des Memex bekannt. Dieses frühe hypothetische Computersystem sollte die Bücher, Aufzeichnungen und anderen Informationen eines Nutzers speichern und indizieren; in den folgenden 70 Jahren inspirierte es die meisten wichtigen Fortschritte in der Entwicklung des Personal Computers.
Mit Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte eine neue Bedrohung aus dem vom Krieg verwüsteten Europa auf. Sozialwissenschaftler und Soldaten taten sich also neuerlich zusammen, um gegen einen unsichtbaren und aggressiv expansionistisch agierenden Gegner zu kämpfen – der Feind war nun die Sowjetunion.
In den sowjetischen Satellitenstaaten in Europa und den in Asien, Afrika und Lateinamerika vom Kommunismus bedrohten Ländern waren Spezialeinsätze – wie man sie später bezeichnete – eine eher undurchsichtige Kategorie militärischer Aktivitäten, die psychologische und politische Kriegsführung, Guerillaeinsätze und Aufstandsbekämpfung umfassten. Zur Mobilisierung dieser „Sonderkriegstaktiken“ richtete das US-Militär 1951 die Dienststelle des Leiters der psychologischen Kriegsführung (OCPW) ein, dessen Aufgabe darin bestand, Psywarriors – Psychokrieger – als Personal zu rekrutieren, organisieren, auszurüsten und auszubilden sowie ideologisch zu unterstützen.6
Leiter der Dienststelle war General Robert McClure, ein Gründervater der psychologischen Kriegsführung und Freund des Schahs von Persien, der maßgeblich am Sturz von Mohammad Mossadegh beim iranischen Militärputsch im Jahre 1953 beteiligt war. Wesentlich für die Projekte von McClures OCPW war eine halbakademische Institution, die seit Langem mit dem Militär zusammenarbeitete: die Human Relations Area Files (dt. etwa: Gebietsakten zu zwischenmenschlichen Beziehungen; HRAF).7
Die HRAF wurden vom Anthropologen und späteren FBI-Informanten George Murdock zu dem Zweck gegründet, Daten über primitive Kulturen in aller Welt zu sammeln und standardisieren. Die Forscher der Institution arbeiteten im Zweiten Weltkrieg eng mit dem Marinegeheimdienst bei der Erstellung von Propagandamaterial zusammen, das den USA bei der Befreiung der Pazifikstaaten von japanischer Kontrolle helfen sollte. Bis 1954 war die Abteilung zu einem interuniversitären Konsortium aus 16 akademischen Institutionen angewachsen, das Geldmittel von der US Army, der CIA und privaten Philanthropen erhielt.
1954 schloss das OCPW einen Vertrag mit den HRAF über die Abfassung einer Serie von Handbüchern zur speziellen Kriegsführung ab, die als wissenschaftliche Arbeiten getarnt waren. Diese Werke zielten darauf ab, den intellektuellen und emotionalen Charakter strategisch bedeutender Menschen zu verstehen, insbesondere deren Gedanken, Motivationen und Handlungen. Ganze Kapitel waren den Einstellungen und dem subversiven Potenzial ausländischer Staatsangehöriger gewidmet; andere Kapitel befassten sich mit Methoden zur Verbreitung von Propaganda in den jeweiligen Zielländern, etwa über die Presse, das Radio oder als Mundpropaganda. Das war natürlich alles Jahrzehnte vor dem Internet.
1956 ging aus diesen Programmen das Special Operations Research Office (SORO) hervor, die Forschungsstelle für Spezialeinsätze. SORO hatte den Auftrag, die Taktiken der psychologischen und unkonventionellen Kriegsführung der US Army im Kalten Krieg zu verwalten und die Arbeit der HRAF auf die nächste Stufe zu bringen. SORO machte sich an die monumentale Aufgabe, die politischen und sozialen Ursachen einer kommunistischen Revolution, die Gesetze des sozialen Wandels sowie die Theorien der Kommunikations- und Überzeugungsarbeit zur Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung zu definieren.
SORO war ein zentraler Bestandteil der Militarisierung der Sozialforschung durch das Pentagon und vor allem jener Ideen und Doktrinen, die den allmählichen Wandel zu einer von Amerika geführten Weltordnung einleiteten. Das SORO-Forschungsteam war am Campus der American University in Washington, D.C., stationiert und bestand aus den bedeutendsten Intellektuellen und Akademikern dieser Zeit. Diese Mannschaft aus Psychologen, Soziologen und Anthropologen vertiefte sich in die Theorie sozialer Systeme, in die Analyse der Gesellschaft und Kultur zahlreicher Zielländer, vor allem in Lateinamerika,8 und setzte sich gleichzeitig mit den universellen Gesetzen sozialen Verhaltens sowie den Mechanismen von Kommunikation und Überzeugungsarbeit in jedem Land auseinander. Wäre die US Army dazu imstande, die psychologischen Faktoren hinter einer Revolution zu verstehen, dann könnte sie theoretisch Revolutionen vorhersagen und aufhalten, bevor sie wirklich in Gang kämen.
SORO war Teil eines sich rasant ausdehnenden Netzwerks staatlich finanzierter Forschungszentren, durch die die akademische Welt zunehmend auf nationale Sicherheitsinteressen ausgerichtet wurde. Diese als „SORONs“ bekannten Einrichtungen arbeiteten an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Staat und setzten sich für eine von Experten gelenkte Demokratie ein. Dass der Totalitarismus nicht fern ist, wenn Sozialingenieure und Technokraten die Kontrolle über Gedanken, Handlungen und Werte des einfachen Volkes erlangten, war ihnen dabei egal.
In der Frühzeit des Kalten Krieges waren solche Akademiker und Wissenschaftler an der Schnittstelle zwischen Militär und akademischer Welt vielmehr fest davon überzeugt, dass Intellektuelle die Geopolitik leiten sollten. Man akzeptierte dies allgemein als die stabilste Regierungsform, um die freie Welt ins nächste Jahrhundert zu führen. Das erklärt, wie es zum heutigen Begriff des „wissenschaftlichen Konsens“ kommen konnte – oder zumindest zu politischen Maßnahmen, die sich als Wissenschaft ausgeben. Vieles, was in diesem goldenen Zeitalter der militarisierten Sozialforschung erreicht wurde, prägt das 21. Jahrhundert, vom Biosicherheitsstaat bis hin zur zutiefst fundamentalistischen Klimaforschung,
Im Jahr 1962 waren bereits 66 staatlich finanzierte militärische Forschungseinrichtungen in Betrieb. Von 1951 bis 1967 verdreifachte sich ihre Zahl, und ihre Finanzierung stieg von 122 Millionen auf 1,6 Milliarden Dollar an.
Als sich in den 1960er-Jahren jedoch der Widerstand gegen den Vietnamkrieg verstärkte, waren immer mehr Intellektuelle, politische Entscheidungsträger und Akademiker zunehmend darüber besorgt, dass der Nationale Sicherheitsstaat sich genau in die staatsfixierte, nach der Weltmacht strebende Kraft verwandelte, gegen die er im Kalten Krieg gekämpft hatte. Vom Pentagon finanzierte Sozialwissenschaftler wurden nun öffentlich als technokratische Sozialingenieure kritisiert. Dies löste eine Welle des Unmuts über die Militarisierung der Sozialforschung aus, die ganz Amerika erfasste und 1969 darin gipfelte, dass die Verwaltung der American University SORO von ihrem Campus verbannte sowie die Beziehung zu ihren militärischen Partnern abbrach. Dieser Schritt war ein Zeichen für die sich ändernde Haltung gegenüber Grauzoneneinsätzen und führte dazu, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren immer mehr US-Universitäten die Kooperation mit militärischen Forschungszentren auf ihrem Gelände beendeten. Das Militär musste sich also anderswo umsehen – und wandte sich in Sachen alternative Kriegsführung der Privatwirtschaft zu. Im Gefolge einer lange währenden Tradition der öffentlich-privaten Zusammenarbeit auf dem militärischen Sektor, von der Rand Corporation bis zur Smithsonian Group, waren diese halbprivaten Institutionen seit den 1940er-Jahren aus dem Militär ausgegliedert worden.
Eines der von SORO konzipierten Programme hieß „Methoden zur Vorhersage und Beeinflussung von sozialem Wandel und Bürgerkriegspotenzial“. Dieses bahnbrechende Programm trug den Codenamen Project Camelot, sollte die Ursachen sozialer Revolutionen untersuchen und im Rahmen der Verhaltenswissenschaft Maßnahmen ermitteln, die man zur Unterdrückung von Aufständen ergreifen könnte. Das Ziel war laut Verteidigungsexpertin Joy Rohde, ein „Radarsystem zur Erfassung linker Revolutionäre zu entwickeln“, eine Art „computerisiertes Frühwarnsystem, das politische Bewegungen prognostizieren und verhindern könnte, bevor sie überhaupt richtig in Gang kommen“.
„Dieses Computersystem“, schreibt Rohde, „könnte aktuelle Informationen mit einer Liste von Voraussetzungen abgleichen, sodass man Revolutionen beenden könnte, bevor deren Anstifter überhaupt wissen, dass sie sich auf den Weg der Revolution begeben haben.“9
Die im Rahmen von Project Camelot gesammelten Forschungsergebnisse sollten Vorhersagemodelle für den revolutionären Prozess erstellen und ein Profil dessen anfertigen, was Sozialwissenschaftler für „revolutionäre Tendenzen und Eigenschaften“ hielten. Man erwartete, dass dieses Wissen die militärische Führung nicht nur dabei unterstützen würde, den Verlauf des sozialen Wandels vorherzusehen, sondern sie auch in die Lage versetzen könne, wirksame Interventionen zu entwerfen, die diesen Wandel theoretisch in eine bestimmte Richtung lenken oder unterdrücken würden. All diese Bemühungen sollten natürlich auf die jeweiligen außenpolitischen Interessen der USA ausgerichtet sein.
Die Informationen, die von Project Camelot zusammengetragen wurden, sollten in eine große computerisierte Datenbank für Prognosen, Social Engineering und Aufstandsbekämpfung einfließen, auf die Militär und Geheimdienste jederzeit Zugriff haben würden.
Das Projekt wurde jedoch von Kontroversen überschattet, als südamerikanische Akademiker erkannten, dass es vom Militär finanziert wurde und imperialistische Motive dahintersteckten. Die folgende Gegenreaktion führte dazu, dass Project Camelot – wenigstens nach außen hin – eingestellt wurde. Doch der Kern des Projekts überlebte. Mehrere militärische Forschungsprojekte griffen das „Frühwarnradar zur Erfassung linker Revolutionäre“ von Project Camelot auf, und die computerisierte Datenbank für „Prognosen, Social Engineering und Aufstandsbekämpfung“ regte in den darauffolgenden Jahren die weitere Entwicklung einer neu aufkommenden Technologie an, die schließlich unter dem Namen Internet weltbekannt werden sollte.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges10 betrieben die Kommandostellen des US-Militärs den Aufbau eines dezentralen Computer-Kommunikationssystems ohne fixe Operationsbasis oder Hauptquartier, das einem sowjetischen Angriff standhalten konnte, ohne zu versagen und das gesamte Netzwerk mit in den Untergang zu reißen.
Koordiniert wurde das Projekt von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die Präsident Eisenhower im Jahr 1958 geschaffen hatte, um Technologien zu entwickeln, die die Grenzen von Wissenschaft und Technik erweitern und den USA helfen sollten, die „Raketenlücke“ gegenüber der Sowjetunion zu schließen.
Seit dem Kalten Krieg stand die DARPA an der Spitze aller wichtigen Fortschritte in der Entwicklung des PCs, die 1969 mit der Einführung der ersten Computer in den Universitäten der USA ihren Höhepunkt erreichte. Ein paar Jahre danach entwickelte die DARPA die Protokolle, mit denen angeschlossene Computer transparent über mehrere Netzwerke hinweg miteinander kommunizieren konnten. Dieses „Internetting Project“ führte zum prototypischen DARPA-Kommunikationsnetzwerk – dem ARPANET, das 1973 ins Leben gerufen wurde.
Das Projekt wurde schließlich an die Defense Communications Agency (auch Defense Information Systems Agency) übertragen und in die zahlreichen neuen Netzwerke integriert, die mittlerweile neu entstanden waren. 1983 wurde das ARPANET in zwei Komponenten aufgeteilt: das MILNET für die Nutzung durch Militär und Verteidigungsbehörden sowie die zivile Version, die den Namen ARPANET beibehielt.
Sieben Jahre später dann wurde ARPANET offiziell stillgelegt und das Internet privatisiert; nunmehr war ein Unternehmenskonsortium dafür verantwortlich, dem Firmen wie IBM und MCI Inc. angehörten. Später gründete die US-Regierung etwa ein Dutzend Netzwerkbetreiber und gliederte diese in den privaten Sektor aus. Die daraus entstandenen Unternehmen – unter ihnen Verizon, Time Warner, AT&T und Comcast – bilden das Rückgrat des heutigen Internets. Es sind dieselben sechs Konzerne, denen nicht nur 90 Prozent der amerikanischen Medien gehören,11 sondern die auch den globalen Kommunikationsfluss kontrollieren. Erreicht wurde dies durch die völlige vertikale wie horizontale Angleichung der traditionellen und digitalen Medien12 sowie die Infrastrukturen und Technologien, die ihre Massenkommunikation ermöglichen – wie Kabel-, Satelliten- und Drahtloskommunikation sowie die dazu nötige Hardware und Software.
Ein bedeutender Akteur bei der Entwicklung des ARPANET, der von vielen als Vater der Informatik betrachtet wird, war der amerikanische Psychologe J. C. R. Licklider. „Lick“ – so sein Spitzname – war der erste Direktor jener Abteilung, die die Informationstechnologie-Programme der DARPA in die Realität umsetzen sollte. Diese Abteilung – das Information Processing Techniques Office (IPTO) – ist für praktisch jeden wichtigen Fortschritt in der Computerkommunikation seit den 1960er-Jahren verantwortlich.
Wie der ARPANET-Mitarbeiter Stephan J. Lukasik in seinem Aufsatz „Why the Arpanet Was Built“13 darlegt, sah Lick „eine Verbindung zwischen Informationstechnologie und verhaltens- sowie kognitionswissenschaftlichen Fragen“. Lick prognostizierte im Grunde genommen, wie das Internet soziale Prozesse in der realen Welt auslösen würde, die die Art und Weise, wie wir kommunizieren sowie Informationen organisieren und verarbeiten, radikal verändern würde. Es ist kein Zufall, dass ein Psychologe vom Kaliber Licks an vorderster Front einer neuen Technologie stand, die grundlegende Schwächen der menschlichen Psyche ausnutzen sollte.
In den 1960ern betreute Lick das strategische Interesse der DARPA an den neuen Grenzen der Informationstechnologie: die Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI). In einem berühmten Aufsatz,14 der als einer der wichtigsten in der Geschichte der Informatik gilt, vertrat Lick die damals radikale Vorstellung, dass der menschliche Verstand eines Tages nahtlos mit Computern verschmelzen würde.15Damit nahm er die Entwicklung der KI vorweg, ebenso wie die Rolle, die die DARPA im Laufe von sechs Jahrzehnten bei der Finanzierung so gut wie aller bedeutenden Fortschritte in der BCI-Technologie spielen sollte – inklusive Elon Musks Firma Neuralink zur Entwicklung einer vollständig implantierten, drahtlosen Gehirn-Computer-Schnittstelle.16
Das ARPANET brachte die Kriegsmaschinerie des Pentagons mit den Forschungsabteilungen der Universitäten und der Gegenkulturszene der kalifornischen Bay Area zusammen. Dadurch wurde ein Großteil des anekdotischen Idealismus aktiviert, der typisch für die frühen Jahre des Cyberspace – eines angeblich neuen Freiraums für die gesamte Menschheit – war. Für die ersten Anwender war der Cyberspace das gelobte Land der freien Information und universellen Konnektivität. Die Möglichkeiten schienen schier endlos.
Doch Kriegstreiber und Geheimdienstanalysten hatten andere Vorstellungen. Aus dem Vietnamkrieg hatten sie die Lehre gezogen, dass die Zukunft der amerikanischen Kriegsführung nicht in Auseinandersetzungen mit Nationalstaaten, sondern mit Ideologien oder vielmehr Basisbewegungen wie den Vietcong liegen würde. Solche Bewegungen waren in der Lage, innere Unruhen hervorzurufen, die zu Aufständen und im schlimmsten Fall Revolutionen führen konnten. Man musste daher alternative Ansätze finden, um diese neue Bedrohung der freien Welt zu infiltrieren und zu stören.
Während in Südostasien der Krieg tobte, kam ein weiterer promovierter Psychologe namens Robert Taylor als dritter Direktor der DARPA zu dieser Behörde. Taylor wurde 1967 nach Vietnam versetzt, um dort das erste Computerzentrum auf der Basis des Militärischen Unterstützungskommandos17 in Saigon18 einzurichten. Es sollte zu einer der zentralen Säulen der psychologischen Kriegsführung des US-Verteidigungsministeriums werden. Dieser Schritt war ein Zeichen dafür, dass ab nun in militärischen Auseinandersetzungen neue Regeln galten. DARPA und die neue Technologie spielten wichtige Rollen in den Kriegsanstrengungen, sowohl in Südostasien als auch auf amerikanischem Boden, wo es die wachsende Antikriegsbewegung zu bekämpfen galt.
1968 publizierten Taylor und Lick ihren bahnbrechenden Aufsatz „The Computer as a Communication Device“, in dem sie skizzierten, wohin sich das Internet in Zukunft entwickeln würde. Der Text begann mit der visionären Aussage:
„In ein paar Jahren werden die Menschen in der Lage sein, durch eine Maschine effektiver miteinander zu kommunizieren als von Angesicht zu Angesicht.“19
Dadurch nahmen sie den kometenhaften Aufstieg der sozialen Medien, insbesondere von Facebook, schon Jahrzehnte zuvor vorweg.
Die Entstehung von Facebook fällt mit einem umstrittenen Militärprogramm zusammen, das geheimnisvollerweise genau im selben Jahr eingestellt wurde, als Facebook auf den Markt kam.20
Das fragliche Programm nannte sich LifeLog und wurde vom IPTO21 der DARPA entwickelt. Es hatte das erklärte Ziel, ein dauerhaftes und durchsuchbares elektronisches Tagebuch des gesamten Lebens eines Individuums zu erstellen – einen Datensatz mit seinen privatesten Informationen, der jede seiner Bewegungen, jedes Gespräch, alle Kontakte sowie alles, was die betreffende Person je gehört, gesehen, gelesen oder gekauft hatte, umfassen sollte.22
Doch würden die Menschen wirklich bereit sein, eine solche Aufzeichnung ihres Privatlebens an eine Plattform des Militärgeheimdiensts weiterzugeben?
Wahrscheinlich nicht. Doch plötzlich war Facebook da.
LifeLog wurde offiziell zwar eingestellt, aber dies war weder das erste noch das letzte Mal, dass ein Projekt dieser Größenordnung vorgeschlagen wurde.
In einem Artikel, den er 1945 für die Zeitschrift The Atlantic verfasste, erörterte Vannevar Bush – der, wie erwähnt, im Zweiten Weltkrieg die psychologischen Operationen der US Army leitete – sein hypothetisches Projekt Memex, ein Gerät, „in dem eine Person alle ihre Bücher, Aufzeichnungen und anderen Informationen speichert, und das mechanisiert ist, sodass man mit überragender Geschwindigkeit und Flexibilität in ihm nachschlagen kann“.
LifeLog sollte in ähnlicher Weise das Leben von Menschen für die Ewigkeit festhalten und damit – so hofften seine Erfinder – schließlich zum aufkommenden Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) beitragen, die eines Tages denken würde wie ein Mensch. In dieser Hinsicht überschneidet es sich mit einem weiteren von der DARPA finanzierten Projekt: dem Personal Assistant that Learns (dt. etwa: lernfähiger persönlicher Assistent; PAL), einem kognitiven Computersystem, das militärische Entscheidungsprozesse effizienter machen sollte. PAL wurde schließlich als Siri ausgegliedert – der virtuelle Assistent des Apple-Betriebssystems, der in den Haushalten von einer Milliarde23 ahnungsloser Menschen zu finden ist.
Doch Lifelog ist nur ein Teil der Story. Es gab auch noch ein anderes DARPA-Programm, das ein Jahr vor dem Start von Facebook plötzlich „verschwand“: das Information Awareness Office (IAO). Es vereinte unter seinem Dach mehrere DARPA-Projekte zur Überwachungs- und Informationstechnologie, darunter auch MDDS, das die Startfinanzierung für Google lieferte.
Das erklärte Ziel des IAO bestand darin, die persönlichen Daten aller US-Bürger zu sammeln und zu speichern, einschließlich ihrer privaten E-Mails, sozialen Netzwerke, Lebensgewohnheiten, Kreditkartendaten, Telefongespräche und Krankenakten – natürlich ohne die Notwendigkeit eines Durchsuchungsbefehls. Diese Informationen sollten unter dem Vorwand, terroristische Anschläge vorhersagen zu können, bevor sie überhaupt geschahen, an die Geheimdienste weitergeleitet werden. Das erinnert frappant an das Frühwarnradar von Project Camelot für linke Revolutionäre.
Obwohl die US-Regierung ihr Vorhaben, die totale Kontrolle über die Informationen normaler amerikanischer Staatsbürger zu erlangen, anscheinend aufgegeben hat, überlebte der Kern des Projekts. Sehen wir uns dazu Palantir an – das unheimliche Datenanalyseunternehmen, das vom Facebook-Vorstandsmitglied Peter Thiel gegründet wurde. Die von Palantir eingesetzten Methoden der prädiktiven Analytik, die im Film „Minority Report“ noch als Science-Fiction dargestellt werden, wurden bereits in großem Umfang gegen Aufständische im Irak, aber auch von Polizeidienststellen in den USA eingesetzt.
Für die Chinesen ist das natürlich nichts Neues. Das Zusammenwirken von Big Data mit dem Sozialkreditsystem wird dort seit vielen Jahren dazu genutzt, Dissidenten auszusondern und zu bestrafen. Den betreffenden Personen kann es passieren, dass sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit in politischen Umerziehungslagern festgehalten werden, weil sie die falschen politischen Überzeugungen vertreten.
Solche Orwellschen Unterdrückungsmethoden stammen jedoch nicht aus China. Schon in den frühen 1960er-Jahren begann die CIA mit ihrem Vorstoß in öffentliche Bereiche. Damals importierten die USA über Jahre hinweg gesammelte Aufstandsbekämpfungsdaten aus den sowjetischen Satellitenstaaten, um im eigenen Land gegen die Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung vorzugehen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde dies noch verstärkt – und jetzt schlägt die totale Informationswahrnehmung über die Hintertür von Covid-19 erst richtig zu, da das chinesische Sozialkreditsystem in Form des Grünen Passes auch im Westen eingeführt wurde.
Vor den Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern ging es gegen Bürgerrechtler und Kriegsgegner. Die Ideologie hinter dem Widerstand mag sich ändern – doch die militärische Taktik, mit der er bekämpft wird, ist dieselbe geblieben.
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe …