NEXUS Magazin: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/natuerliche-autoimmunitaet-freund-oder-feind
Bahnbrechende Forschungen zeigen, dass Autoantikörper nicht zwangsläufig auf eine Störung des Immunsystems hinweisen, sondern dass sie vielmehr biologische Aufgaben erfüllen und die natürliche Autoimmunität das physiologische Gleichgewicht maßgeblich steuert.
Wenn wir uns die Laborwerte für Autoantikörper genauer ansehen, bemerken wir, dass es hier einen Referenzbereich gibt. Die klassische Immunologie, die am Prinzip der Furcht vor Selbstzerstörung festhält, geht hingegen davon aus, dass jedes Vorhandensein von Antikörpern, die gegen den eigenen Körper gerichtet sind, auf den Verlust der Selbsttoleranz und eine Beeinträchtigung der immunregulatorischen Mechanismen hindeutet. Bislang hat man angenommen, klonale Deletion und Anergie würden die Entwicklung der Selbsttoleranz ermöglichen, doch diese Konzepte bieten keine Erklärung dafür, dass gesunde Personen häufig über natürliche Autoimmunität verfügen.1 Neuere Forschungen machen deutlich, dass es sich bei Autoimmunität um ein natürliches und häufiges Phänomen handelt und dass Autoimmunerkrankungen eine sekundäre Antwort auf Gewebe- und Organschäden darstellen.
Die Immunologie entwickelte sich aus der angewandten Mikrobiologie heraus, und so wurde die Grundhaltung der Mikrobiologie, das Immunsystem stünde in einem endlosen Kampf des Wirtsorganismus gegen fremdartige Invasoren an vorderster Front, zum Eckpfeiler des neuen Fachbereichs.2 2012 veröffentlichten Poletaev und seine Kollegen einen wegweisenden Artikel, in dem sie die Rolle des Immunsystems neu definieren: Anstatt den Körper zu bewachen, ihn vor dem Eindringen und der Ausbreitung von Mikroben zu beschützen und sich in dauerhafte territoriale Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft zu verstricken, übernimmt das Immunsystem demnach Wartungs- und Pflegeaufgaben und hält das homöostatische Gleichgewicht angesichts eines Ansturms von äußeren, aber auch inneren Kräften aufrecht.3 Im Unterschied zu Regulationssystemen, die sich Botenstoffen wie Neurotransmittern und Hormonen bedienen, verfügt das Immunsystem sowohl über die Reichweite als auch die Mobilität, die notwendig ist, um die genetische Expression zu steuern, die über Entwicklung, Wachstum und Alterung des Organismus bestimmt.4
Anders ausgedrückt, der Krieg des Immunsystems gegen fremde Eindringlinge stellt nur einen kleinen Aspekt einer „viel weitreichenderen biologischen Bestimmung des Immunsystems“ dar, zu der „die Kontrolle der dynamischen Selbstinstandhaltung, Eigenreparatur, individuellen Konstruktion und Selbstoptimierung eines Organismus“ gehört.5 Dieses Konzept des Strebens nach physiologischer Homöostase, an dem das Immunsystem beteiligt ist, wurde vor mehr als einem Jahrhundert von Ilja Iljitsch Metschnikow aufgestellt. Seine Vorstellungen waren allerdings vom Geist des darwinschen Evolutionsgedankens durchtränkt, und er ging unter anderem davon aus, dass die Steuerung der ontogenetischen Entwicklung eines vielzelligen Organismus zu den zentralen Aufgaben des Immunsystems zählt.
Die Forschungen von Polly Matzinger, die 1994 die Gefahrentheorie aufgestellt hat, erinnern an Metschnikows Ansichten über natürliche Immunität und physiologische (normale) Entzündungsvorgänge. Ein halbes Jahrhundert lang war die Immunologie davon ausgegangen, das Immunsystem basiere auf der fundamentalen Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Fremden.6
Diese Annahme hat sich jedoch als falsch herausgestellt, da Forscher entdeckten, dass das Immunsystem sowohl auf Fremdes als auch auf Gefahr anspricht. So signalisieren pathogen-assoziierte molekulare Muster (PAMPs) – konservierte Strukturmotive vieler Mikroorganismen, die Mustererkennungsrezeptoren (PRRs) aktivieren – die Anwesenheit eines Feindes und führen zur Aktivierung des Immunsystems.7 PAMPs, die in Wirbeltieren normalerweise nicht vorkommen, beispielsweise bakterielle Lipopolysaccharide (LPS), doppelsträngige RNA von Viren und Peptidoglykane aus den Zellwänden von Pilzen, sind daher ein Warnsignal für die Phagozyten und antigenpräsentierenden Zellen (APCs) unseres Immunsystems.
Doch neueste Forschungen haben gezeigt, dass das Immunsystem eher damit befasst ist, potenziell schädliche Strukturen zu identifizieren, anstatt einfach zwischen eigenen und fremden Molekülen zu unterscheiden. Dies ist eine Erklärung für bislang unerklärliche Phänomene wie das Mikrobiom oder das Mikrovirom, die der Körper nicht bekämpft – im Falle der Darmflora entwickelt sich sogar eine Symbiose. Matzingers Hypothese vermag sogar zu erklären, wieso der weibliche Körper die Entwicklung eines Embryos toleriert, dessen Gene zur Hälfte körperfremd sind, ohne ihn während der Schwangerschaft abzustoßen.8
Durch diese Erkenntnisse werden die vorherrschenden Ansichten über Autoimmunerkrankungen auf eine harte Probe gestellt. Anstatt Vorboten eines defekten Immunsystems zu sein, könnten Autoantikörper als Erkennungsmoleküle oder immunologische Spiegelbilder dienen, die das Immunsystem dabei unterstützen, Zellteilung, Zelldifferenzierung, Apoptose und andere zelluläre Vorgänge zu regulieren.9 Auf diese Weise kommt das Prinzip des immunologischen Homunculus zur Entfaltung, das besagt, dass das System der Autoimmunität „als ein Spiegelbild dient, das für die dynamische Bewahrung der individuellen Selbstidentität sorgt, weil sie zur umfassenden induzierbaren Vervielfältigung von komplementären Molekülen fähig ist“ – ein Effekt, den Poletaev und seine Kollegen als immunologisches Allheilmittel oder „Immunacea“ bezeichnen.10
Demnach kann das Immunsystem durch die Produktion von Autoantikörpern die physiologische Funktion aller Biomoleküle und Bioregulatoren hemmen oder fördern.11 Diese Ansicht wird durch Studien untermauert, die zeigen, dass Antikörper, die Medikamenten, Hormonen, lokal wirkenden Autakoiden und Enzymen ähneln, sowohl bei gesunden Kontrollpersonen als auch bei Erkrankten nachgewiesen werden konnten.12 Komponenten von Autoantikörpern, beispielsweise das Tetrapeptid Tuftsin aus dem Fc-Fragment von Immunglobulin G, üben hormonähnliche Funktionen aus, die wesentlich für die Wechselwirkung von neuroendokrinem und Immunsystem sind.13
Dass Autoantikörper gegen nukleäre Antigene, beispielsweise Chromatinbestandteile, in den Zellkern gelangen und dort Prozesse wie DNA-Replikation, Transkription (Synthese von mRNA) und Translation (Proteinsynthese) beeinflussen können, „lässt darauf schließen, dass Autoimmunität einer der Regulationsmechanismen der zellulären Morphogenese und Funktion ist“.14 Angesichts dieser Befunde folgern Forscher, dass „physiologische Autoimmunität dazu beiträgt, das Ablesen der genetischen Informationen zu organisieren und abzustimmen“.15 Obwohl entdeckt wurde, dass Autoantikörper die Genexpression modifizieren und zelluläre Prozesse drosseln oder ankurbeln können, beschränkt sich der Großteil der Forschungsbemühungen nach wie vor darauf, mithilfe von Antikörpern Prozesse selektiv zu blockieren oder den Zelltod auszulösen.16
Das selbstorganisierende Immunsystem erkennt und produziert Biomarker, beispielsweise Autoantigene und endogene Liganden, um die Immunogenität von Körpergeweben zu kennzeichnen.17 Diese Biomarker wiederum werden vom Immunsystem in eine Immunantwort übersetzt.18 Irun R. Cohen beschrieb 2007, dass der immunologische Homunculus – die vorprogrammierte Autoimmunkomponente des Immunsystems – den ganzen Körper repräsentiert. Die Selbstreaktivität, die den Homunculus ausmache, sei auf Biomarker des immunologischen Gesunderhaltungssystems zurückzuführen, mit deren Hilfe Entzündungsvorgänge reguliert werden.19
Obwohl das von Schwarz-Weiß-Malerei geprägte schulmedizinische Glaubenssystem sie als gesundheitsschädlich erachtet, sind Entzündungen für derart wesentliche Prozesse wie Wundheilung, Angiogenese, Zellregeneration, Beseitigung zellulären Abfalls, die Eindämmung von Krankheitserregern und Neoplasien sowie den Abbau von defekten Molekülen notwendig.20 Cohen (2007) betont die zentrale Bedeutung von Entzündungen für unsere Gesundheit und führt aus, dass unterschiedliche Entzündungsformen „auf den unablässigen körperlichen Verfall reagieren, der sich nach abgeschlossener Entwicklung einstellt“. Sie seien die Antwort auf „schädliche Umwelteinflüsse, Infektionen, Ansammlungen von Stoffwechselprodukten, Abfallstoffen, andere Vergiftungen oder einfach das unaufhaltsame Fortschreiten der Entropie“ und sorgten für die Intaktheit des Organismus.21
Die Forschungen von Paul Ehrlich vom Anfang des 20. Jahrhunderts ebneten den Weg für das Konzept der physiologischen Autoimmunität, weil er Autoantikörper als zirkulierende Zellrezeptoren auffasste.22 Die Entwicklung von auf Antikörpern beruhenden Auto-Antiidiotypen, oder Anti-Signalen und Anti-Rezeptoren, die als strukturelle Antonyme dienen, ist wesentlich für Zellregulation, Zellwachstum, Zellsignalisierung und andere Prozesse. Dabei „verwenden Rezeptoren und ihre Liganden möglicherweise komplementäre Peptidsequenzen oder auch analoge Strukturen, um die Bindung zu erleichtern“.23
Die komplementären Bindungsstellen von Autoantikörpern und Autoantigenen machen zudem eine strukturelle Grundlage deutlich, nicht nur für die „Prozesse der biologisch aktiven Molekülneutralisierung oder der Verhinderung ihrer Interaktion mit Rezeptoren und Liganden, sondern auch für die Stimulation von zellulären und humoralen Effektoren“.24 Autoantikörper können auf diese Weise die Wirkung von Signalmolekülen verstärken, aber auch als Repressoren oder Derepressoren an bestimmten Stellen im Genom fungieren, um synchronisiertes Wachstum, Entwicklung und Differenzierung von verschiedenen Geweben und Organen zu fördern.25
Physiologische Autoantikörper übermitteln Informationen über den Zustand des Körpers, um Entzündungsreaktionen einzuleiten und zu steuern; ihr Aktionsradius kann örtlich beschränkt sein, aber auch den ganzen Körper umfassen.26 So wurde kürzlich ein angeborenes Repertoire an Antikörpern entdeckt, die an etwa 300 Autoantigene binden.27 Gewebsspezifische Antigene wie Thyreoglobulin, Glutamat-Decarboxylase (GAD) und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) lassen Rückschlüsse auf den Ort zu, an dem eine Immunantwort benötigt wird, während Immunmodulatoren oder Autoantikörper, die sich gegen Stressproteine wie das Hitzeschockprotein richten, auf die Art und den Verlauf der immunologischen Intervention hindeuten können.28 Durch Autoantikörper vermittelte antiidiotypische Mechanismen könnten auch Informationen vom Fötus an die Mutter übertragen.
Unter Umständen trägt die natürliche Autoimmunität auch dazu bei, eine Immunantwort auf Krankheitserreger wie beispielsweise bakterielle Hitzeschockproteine zu provozieren, die hoch konservierte Strukturen mit einer Kreuzreaktivität gegenüber Autoantigenen besitzen.29,30 Paradoxerweise „binden natürliche Autoantikörper an körpereigene Epitope oder solche, die diese nachahmen und verhindern daher die Einleitung einer schädlichen Autoimmunantwort.“31 Es wurde ebenfalls angeregt, dass natürliche Autoantikörper Regelkreise in Gang setzen und durch die Interaktion mit körpereigenen Komponenten leichter ein dynamisches Netzwerk hervorbringen, das krank machender Autoimmunität erfolgreich vorbeugt.32
Eine wichtige Funktion der natürlichen Autoimmunität ist die Entsorgung von überflüssigen Neben- und Abbauprodukten des Stoffwechsels und schadhaften Zellen.33 Natürliche Autoantikörper können Zellen markieren, die für die Opsonin-abhängige Phagozytose bestimmt sind; dadurch werden Makrophagen angelockt, um die defekten Zellen zu entsorgen. Makrophagen und andere Fresszellen erkennen mithilfe von Fc-Rezeptoren an ihrer Oberfläche lösliche und partikuläre Antigen-Antikörper-Komplexe, die sie mittels Endozytose beseitigen.34
Dieser Sachverhalt erklärt die nahezu unveränderliche Konzentration von Autoantikörpern im Blutserum gesunder Erwachsener, bei denen das Verhältnis von Abfallerzeugung und -entsorgung relativ konstant bleibt.35
Zudem können Antikörper die Abbauprozesse der Apoptose, des programmierten Zelltods, hemmen oder fördern.36 Darüber hinaus vermittelt eine natürliche Autoimmunantwort die Apoptose alternder Zellen bei der Ontogenese, also während der Entwicklung eines Organismus, indem sich Autoimmunzellen gegen das an der Oberfläche befindliche, nicht gewebsspezifische Bande-3-Protein richten.37 Metchnikow vermutet sogar, dass Autoantikörper für den alterstypischen Organabbau verantwortlich sind.38
Wird zu viel Antigen-Abfall erzeugt, erhält der Körper die Nachricht, die Antikörperproduktion hochzufahren, um den Ausstoß zu beseitigen.39 Dies erklärt, weshalb bei pathologischen Veränderungen von Organen vermehrt organotrope (gegen Organe gerichtete) Autoantikörper erzeugt werden; buchstäblich alle chronischen Krankheiten mit langer Latenzzeit ziehen eine verstärkte Apoptose bestimmter Zellgruppen nach sich, was zu einer massiven Freisetzung ihrer Antigene führt.
Gewebsverletzungen als Reaktion auf den Kontakt mit Giftstoffen, Infektionen, oxidativer Stress und andere Schäden durch Umweltfaktoren lösen die Apoptose, den programmierten Zelltod, aus, damit die defekten Zellen beseitigt werden. Wenn im Rahmen der Apoptose große Abfallmengen in Umlauf geraten, werden auch Autoantigene, die der Körper normalerweise einer Mülltrennung zuführt, aus den absterbenden Zellen freigesetzt; dies regt die Steigerung der Antikörperproduktion an, die sich gegen die zahlreichen Antigene aus den apoptotischen Zellen richten.40
Unter normalen Umständen beseitigen Makrophagen den durch die Apoptose entstandenen Abfall rasch und verhindern, dass antigenpräsentierende Zellen (APCs) diese Autoantigene aufnehmen.41 Bei Erkrankungen der Organe und Autoimmunkrankheiten wie systemischem Lupus erythematodes ist die Geschwindigkeit, mit der Lymphknoten-Makrophagen den Abfall aus der Apoptose auffressen, allerdings erheblich reduziert.42,43 Wenn APCs die Autoantigene aufnehmen, wird eine Immunantwort hervorgerufen. Dies erklärt die Zunahme an Antikörpern gegen Antigene des Chromatins und der Kernmembran – zum Beispiel Cardiolipine, Histone und doppelsträngige DNA – bei Autoimmunkrankheiten wie Sklerodermie, rheumatoider Arthritis oder systemischem Lupus erythematodes. In seiner grenzenlosen Weisheit versucht der menschliche Körper, mit einer spezifischen Autoimmunantwort das homöostatische Gleichgewicht wiederherzustellen und die Beseitigung von Abfallprodukten und die Reparaturmaßnahmen anzukurbeln.
Erhöht sich die Antikörperkonzentration monate- oder jahrelang vor dem Auftreten von Symptomen, lässt sich unter Umständen eine zukünftige Erkrankung oder auch eine Organinsuffizienz vorhersagen.44 Antikörper mit prädiktiver Bedeutung dienen als Biomarker: Sie gehen mit einem positiven prädiktiven Wert (PPW) bzw. einer gewissen Wahrscheinlichkeit einher, dass ein Patient innerhalb einer bestimmten Zeitspanne tatsächlich eine Autoimmunkrankheit entwickeln wird.
Wenn beispielsweise Schilddrüsenantikörper vorliegen, so beträgt das Risiko für Frauen 8 und für Männer 25, eine klinische Schilddrüsenunterfunktion zu entwickeln.45 In einer anderen Studie konnte mithilfe von Thyreoperoxidase-Antikörpern eine nach einer Schwangerschaft auftretende Schilddrüsenentzündung mit einer Sensitivität von 97 Prozent und einer Spezifität von 91 Prozent vorhergesagt werden.46 Bei Patienten mit systemischem Lupus erythematodes traten ungefähr 2,2 Jahre vor der Diagnose Antikörper gegen doppelsträngige DNA auf.47 In einer Patientengruppe mit antimitochondrialen Antikörpern – sie besitzen einen prädiktiven Wert für primäre biliäre Zirrhose – entwickelte die Hälfte innerhalb von 5 Jahren Symptome einer primären biliären Zirrhose, bei 95 Prozent dauerte es bis zu 20 Jahre. Zur Veranschaulichung sei angeführt, dass Menschen mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit innerhalb von 10 Jahren insulinpflichtigen Diabetes bekamen, wenn sie zwei oder mehr Typ-1-Diabetes-Antikörper besaßen.48 Und zum Schluss: 90 Prozent der Kinder, die man positiv auf Nebennierenrinden-Autoantikörper getestet hatte, entwickelten innerhalb von zehn Jahren die klinischen Symptome einer Nebenniereninsuffizienz.
Der klinische Nutzen einer Untersuchung auf Autoantikörper mit prädiktiver Bedeutung liegt in der Identifikation ungünstiger Autoimmunmechanismen schon in der Initiations- und in der Propagationsphase, also bevor eine offensichtliche Krankheit diagnostiziert und ehe vorgeschlagen wird, mit invasiven Methoden Medikamente zu verabreichen, die wegen ihrer schädlichen Nebenwirkungen hochriskant sind. Prädiktive Autoantikörper sind auch insofern wertvoll, als sie verraten, gegen welches Gewebe sich Autoimmunattacken richten, sodass angemessene krankheits- und gewebsspezifische Unterstützungsmaßnahmen ergriffen werden können.
Vor allem aber „können aus der Art der Antikörper, ihrer Konzentration und der Anzahl der Antikörper mit positivem prädiktivem Wert die Entstehung und der Schweregrad einer bestimmten Autoimmunerkrankung abgeleitet werden.“49Die Messung der prädiktiven Autoantikörper hat sich in der funktionellen Medizin etabliert, die von zahlreichen Abstufungen zwischen Gesundheit und Krankheit ausgeht; denn prädiktive Autoantikörper treten auf, bevor eine Schwarz-Weiß-Diagnose gestellt wird und ermöglichen daher die frühzeitige Entdeckung einer Erkrankung. Weil die funktionelle Medizin zudem auf Prävention abzielt, können Lebensstil und Ernährung beeinflusst und pflanzliche und nutrazeutische Therapien aufgenommen werden, um den Entstehungsverlauf einer Autoimmunerkrankung abzumildern und irreparable Gewebsschäden zu unterbinden.
Zum Abschluss sei gesagt, dass das neuartige, von Metschnikows Hypothesen über die physiologische Autoimmunität abgeleitete Konzept der natürlichen Autoimmunität die Tatsache würdigt, dass Autoimmunantworten für die normale Funktionsweise des Immunsystems, die Zellregulation und die „Synchronisierung der zellulären Funktionen und Morphogenese“50 erforderlich sind. Aus Forschungen geht hervor, dass Autoantikörper gegen intakte Autoantigene, zu denen auch bestimmte Antigene des Zellkerns zählen, notwendig sind, damit die Organe unter physiologischen Bedingungen optimal funktionieren.51
Aus evolutionärer Perspektive wird jedoch deutlich, dass der immunologische Homunculus seinen Preis hat. Wie Cohen 2007 bemerkt hat, könnten aufgrund der „pathogenen Aktivierung von Autoimmun-Vorläuferzellklonen im Rahmen der natürlichen Autoreaktivität des Homunculus“52 krank machende Untergruppen von T-Zellen und Autoantikörper entstehen. Manche Forscher stufen Autoimmunkrankheiten oder Erkrankungen, bei denen die natürliche Autoimmunität gestört wird, neuerdings als „Autoallergie“ ein.53
Daher ist die Sichtweise, die Autoantikörper nur auf den Bereich der Autoimmunkrankheiten beschränkt, unvollständig. Antikörper aktivieren nachweislich die Synthese der DNA, steigern die Häufigkeit der Zellteilungen und fördern die Zellproliferation (Zellteilung und -wachstum).54 So sorgen beispielsweise bestimmte neurotrope Autoantikörper für schnellere Genesung und Zellregeneration nach einem ischämischen Schlaganfall.55 Autoantikörper, die sich gegen das High-Mobility-Group-Protein B1 (HMGB1) richten und damit gegen einen Informationsüberträger bei tödlichen Krankheiten wie Sepsis oder multiplem Organversagen, senken offensichtlich ebenfalls das Sterberisiko bei Schocks.56 Prinzipiell fördern Autoimmunmechanismen die Beseitigung von Zellabfall sowie anomalen Zellen und fördern dadurch die Aufrechterhaltung der Homöostase.
Diese revolutionären Forschungsergebnisse bestätigen im Kern die Herangehensweisen der funktionellen Medizin und der Naturheilkunde; sie fassen Autoimmunkrankheiten als eine anpassungsfähige physiologische Reaktion auf Vorerkrankungen in den betroffenen Organen auf. Davon abgesehen begreifen sie die Autoimmunität als ein zwingend notwendiges natürliches Phänomen, das eine Reihe normaler Zellfunktionen steuert. Betrachtet man Autoimmunkrankheiten aus dieser wegweisenden Perspektive, lassen sich Veränderungen von Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten entwerfen, um zugrunde liegende Krankheiten zu bekämpfen und eine Entgleisung der Immunantwort zu stoppen, die Autoimmunerkrankungen nach sich zieht.
Das englische Original dieses Artikels wurde auf GreenMedinfo.com unter dem Titel „Natural Autoimmunity: Friend or Foe?“ veröffentlicht (https://bit.ly/levere-autoimmun).