NEXUS Magazin: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/meerwasser-elixier-der-heilung
Salzwasser trinkt man nicht! Dass der Verdurstungstod mit jedem Schluck wahrscheinlicher wird, hat jeder in Dokus über Schiffbruch oder bei Gesprächen mit Freunden schon gehört. Wahr ist indes auch, dass das Fruchtwasser, aus dem wir stammen, das Blut und die Zellflüssigkeit, die uns lebendig halten, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Meerwasser haben. Diese Parallelen spornten den Biologen René Quinton um 1900 zu kühnen Experimenten an, die in eine eigene Therapie mit sogenanntem Meeresplasma mündeten. Trotz einer langen Erfolgsgeschichte ist Quintons Therapie in Vergessenheit geraten – unsere Autorin möchte das ändern.
In den frühen 1900er-Jahren wurde ein französischer Biologe wie ein Nationalheld gefeiert: René Quinton hatte herausgefunden, dass Blut und Meerwasser in ihrer Zusammensetzung nahezu identisch sind und in spektakulären Versuchen demonstriert, dass todgeweihte Tiere und Menschen mithilfe von Meerwasserinfusionen und -injektionen zu neuem Leben erwachen. Trotz großer Heilungserfolge auf der ganzen Welt geriet seine Therapie in Vergessenheit. Jetzt erlebt sie eine zaghafte Renaissance.
Das erste Mal! Mit nacktem Oberkörper lege ich mich bäuchlings auf die Praxisliege und atme tief durch. Wir sind beide gespannt, Ludmilla ebenso wie ich, auf unser gemeinsames Experiment: gereinigtes isotonisches Meerwasser als subkutane Injektion. Während Ludmilla die erste 10-ml-Spritze aufzieht und meinen Rücken desinfiziert, gehen mir Bilder durch den Kopf: von René Quinton, dem Pionier der Meerwassertherapie, dessen Geschichte mich nicht mehr loslässt. Bilder von abgemagerten, cholerakranken Kindern, denen Quinton mit seiner Meerwasserkur das Leben rettete. Bei meinem Termin heute geht es nicht um Cholera oder Diarrhöe – es geht darum, die Schmerzen zu lindern, die mich nach einem Bandscheibenvorfall vor einigen Jahren immer wieder heimsuchen.
„So, alles vorbereitet.“ Ludmilla holt hörbar Luft. „Ein bisschen aufgeregt bin ich schon“, sagt sie, „aber aufgeregt im positiven Sinne“. Los geht’s: Der erste Stich, nur ein leichtes Piksen, mehr spüre ich nicht, der nächste Stich, so arbeitet sich Ludmilla langsam durch die Problemstellen. Es geht darum, die verklebten Faszien mit dem Meerwasser durchzuspülen, zu rehydrieren und zu remineralisieren. 40 Milliliter Meerwasser, gemischt mit zwei Milliliter des Lokalanästhetikums Procain landen in meinem Rücken, der ein paar Minuten lang einige Beulen aufweist. Die Praxis habe ich heute mit Schmerzen betreten – nachdem sich die Flüssigkeit im Gewebe verteilt hat, stehe ich beschwingt auf und sage überrascht: „Ich habe überhaupt keine Schmerzen im Moment!“ Ludmilla strahlt.
René Quintons Meerwassertherapie fand in den frühen 1900er-Jahren zunächst in den Krankenhäusern seiner Wahlheimat Paris Anwendung. Wegen des großen Zuspruchs eröffnete er weitere Meerwasserambulanzen außerhalb der Hauptstadt und wurde während einer Cholera-Epidemie sogar nach Ägypten gerufen, wo er Tausenden Kindern das Leben rettete. Viele Jahre lang war die Meerwassertherapie nach Quinton ein medizinischer Standard; erst im Zeitalter synthetischer Arzneimittel geriet sie in Vergessenheit. Inzwischen erlebt sie in vielen Ländern der Welt eine Renaissance, bleibt in Deutschland aber ein Insidertipp.
Nach allem, was ich über Quintons Therapie gelesen und selbst erfahren habe, gehen mir eine ganze Reihe Fragen durch den Kopf: Warum sind Injektionen und Infusionen mit Meerwasser hierzulande nicht medizinischer Standard? Warum wird Meerwasser Schwerkranken nicht als Trinkkur verordnet? Warum stieß ich als Autorin mit dem Schwerpunkt komplementäre Heilkundeerst vor Kurzem auf dieses hochspannende Thema, obwohl das Meer seit meiner Kindheit eine magische Anziehungskraft auf mich ausübt?
Im Meer habe ich als kleines Mädchen schwimmen gelernt. Das Meer lehrte mich auch das Loslassen, als eine tosende Nordseewelle mich mit Wucht packte und unter Wasser drückte. Das Meeresrauschen wiegte mich abends in den Schlaf, und ich ging erst an Land, wenn meine Lippen blau anliefen und ich vor Kälte zitterte. Der letzte Urlaubstag am Meer war immer ein dunkler Tag für mich, denn ich musste Abschied nehmen. Im Meer hat mein Vater seine letzte Ruhe gefunden, ein halbes Jahr nach seinem Tod stand ich im südafrikanischen Durban am Strand und glaubte einen Wimpernschlag lang, seinen Atem zu spüren wie eine leichte Meeresbrise. Die Tränen, die über mein Gesicht liefen, schmeckten so salzig wie das Meer, das leise flüsternd meine Zehen umspülte.
Meer und Mensch sind eng verbunden. In der griechischen Mythologie steigt Venus, die Göttin der Liebe und der Schönheit, die Mutter aller irdischen Geschöpfe, bei ihrer Geburt aus dem Meer. Der griechische Philosoph Thales von Milet schreibt im 6. Jahrhundert v. Chr., der Mensch sei aus dem Meer geboren worden, Wasser sei der Urstoff aller Dinge. 71 Prozent unseres Heimatplaneten sind von Wasser bedeckt und fast das gesamte Wasser der Erde ist in den fünf Weltmeeren enthalten, also salzig. Salzig sind auch die Sekrete, die aus unserem Körper kommen: Tränen, Blut und Schweiß. Tatsächlich sind Blut und Meerwasser Geschwister: In ihrer chemischen Zusammensetzung ähneln sie einander so sehr wie sonst kaum zwei natürliche flüssige Substanzen. „Blut und Meerwasser sind verwandt“, sagt der Molekularbiologe Prof. Andreas Beyer. Würde man sich Blutplasma auf der Zunge zergehen lassen, würde es wahrscheinlich nach Ozean schmecken, vermutet er.1