NEXUS Magazin: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/die-lange-verwirrende-geschichte-des-grundeinkommens-und-warum-es-zurueckkehrt
David Floyd
Was versteht man unter „Grundeinkommen“?
In der elementarsten Form ist ein Grundeinkommen eine nicht an Bedingungen geknüpfte, regelmäßig wiederkehrende Zahlung einer Regierung an alle Menschen. Die Zahlung ist nicht einkommensabhängig, ein Obdachloser erhält dieselbe Summe wie ein Hedgefonds-Manager. Das Grundeinkommen verpflichtet zu nichts. Das bedeutet, es besteht keinerlei Notwendigkeit, arbeiten zu gehen, eine Schule zu besuchen, sich impfen zu lassen, sich für den Dienst beim Militär zu melden oder wählen zu gehen.
Die Auszahlung erfolgt nicht in Form von Sachleistungen (Unterkunft, Essen) oder Gutscheinen. Es ist ein garantiertes Einkommen; niemand kann weniger verdienen als diese Summe.
Fragen stellen sich vor allem in Zusammenhang mit der praktischen Umsetzung dieser Politik. Ist ein Grundeinkommen steuerpflichtig? Wer sind eigentlich „alle Menschen“? Steht ein Grundeinkommen nur den Bürgern des jeweiligen Staates zu?
Die Idee, der Staat solle das Einkommen aller Menschen absichern, tauchte in den vergangenen zweihundert Jahren wiederholt auf – sei es als Bürgerdividende, Sozialkredit, nationale Dividende, „demogrant“ bzw. „Bürgergabe“, negative Einkommenssteuer, Mindesteinkommen oder in irgendeiner anderen Variante.
Gegenwärtig ist die Vorstellung eines Grundeinkommens wieder einmal sehr populär, wobei die Befürworter von diversen ideologischen Standpunkten aus höchst unterschiedlich argumentieren. Das ist wenig überraschend, wenn man die verworrene Herkunft des Grundeinkommens betrachtet. Vereinfacht gesagt betrachten es die Befürworter aus dem linken Lager als Mittel gegen Armut und soziale Unterschiede; der rechte Flügel hingegen sieht seine Vorteile eher in einer gesteigerten Effizienz des Wohlfahrtsstaates.
Dabei spalten die Differenzen unter den Reformern selbst sowohl das linke als auch das recht Lager noch weiter: Einige wollen das Grundeinkommen in Anbetracht gegenwärtiger Probleme sofort umsetzen, die Futuristen hingegen die Gesellschaft als solches radikal reformieren – oder sie vor einer radikalen Umwälzung durch die Automatisierung bewahren.
Ein paar der führenden Köpfe des Silicon Valley unterstützen das Grundeinkommen als Gegengewicht zu der von ihren Branchen verursachten Automatisierung. Zu diesen zählt Elon Musk, der künstliche Intelligenz als „unsere größte Existenzbedrohung“ bezeichnet. Sam Altman, Präsident der Start-up-Schmiede Y Combinator, kündigte eine „große Langzeitstudie“ in Oakland, Kalifornien, über die Auswirkungen des Grundeinkommens an.
Daron Acemoglu (MIT) und Pascual Restrepo (Boston University) kamen in einer Studie vom März 2017 zu dem Schluss, dass jeder Roboter durchschnittlich 6,2 Menschen arbeitslos macht.
Und die Situation verschlechtert sich wahrscheinlich weiter. Carl Frey und Michael Osborne aus Oxford sahen in einer wissenschaftlichen Arbeit im Jahr 2013 47 Prozent der US-amerikanischen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung gefährdet. Am stärksten bedroht sind dabei nicht etwa rein manuelle Tätigkeiten: So besteht etwa bei Finanzbeamten, Kellnern, Rechtsanwaltsgehilfen, Kreditbetreuern, Kreditanalysten und 166 weiteren Berufen eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent oder mehr, dass sie von Algorithmen abgelöst werden. Algorithmen diagnostizieren schon heute bestimmte Krankheiten besser als Mediziner, und die Prototypen selbstfahrender Autos schweben als Damoklesschwert über den Köpfen von Berufsfahrern.
Eine Möglichkeit zur Überwindung dieser Probleme wäre, die Produktion zu verdoppeln, anstatt die Hälfte der Mitarbeiter zu entlassen.
Manche Zukunftsforscher können allerdings gar nicht verstehen, was all die Aufregung über Massenarbeitslosigkeit soll. Wenn Roboter das Essen servieren oder Reisende zum Flughafen bringen, nehmen sie dann Kellnern und Taxifahrern die Arbeitsplätze weg oder befreien sie diese nicht vielmehr aus ihrem Alltagstrott? Wohl eher Letztgenanntes, vorausgesetzt, die betreffenden Personen erhalten ein Grundeinkommen, das für ein bequemes Leben reicht. Dies gilt besonders, wenn diese ihre neu gewonnene Freizeit kreativ und gesellschaftsförderlich nutzen.
1930 beschrieb John Maynard Keynes seine Zukunftsvision der „technischen Arbeitslosigkeit“. Er meinte, irgendwann würden wir unseren „Existenzkampf“ hinter uns lassen und Arbeit wäre dann keine Notwendigkeit mehr, dennoch „würde der alte Adam in uns noch so stark bleiben, dass jeder von uns ein gewisses Pensum“ – vielleicht 15 Stunden pro Woche – „arbeiten muss, um zufrieden zu sein“. Keynes erwähnte kein Grundeinkommen, sondern ging stattdessen davon aus, der Lebensstandard würde unaufhaltsam steigen, bis seine Utopie etwa um 2030 Wirklichkeit würde. Bis dahin ist zwar noch etwas Zeit, doch einige der Befürworter meinen, ein Grundeinkommen könnte den Prozess vorantreiben. Sie haben Visionen von kreativen Menschen, die keiner ungeliebten Tätigkeit mehr nachgehen müssen und somit zur künstlerischen, unternehmerischen und spirituellen Vitalität der Gesellschaft beitragen. Ebenfalls sehen sie eine – wenn auch implizite – Anerkennung der großteils unbezahlten sozialen Arbeit der Frauen voraus.
Nicht alle sind von dieser Idee überzeugt. Bill Gates etwa sagte im Februar während einer Fragestunde auf der Onlineplattform Reddit:
„Selbst die USA sind nicht reich genug, um ihren Bürgern ein arbeitsfreies Leben verschaffen zu können. Eines Tages werden sie das sein, doch bis dahin steigern Dinge wie der Earned Income Tax Credit [Anm. d. Übers.: eine Lohnaufstockung für Geringverdiener] die Nachfrage nach Arbeitskräften.“ Seine Aussage fasst die beiden größten Kritikpunkte am Grundeinkommen zusammen: dass es exorbitante Kosten verursachen und die Anreize, arbeiten zu gehen, reduzieren oder wegfallen lassen würde. Die Befürworter bestreiten beide Aspekte, doch da empirische Studien über die Auswirkungen des Grundeinkommens fehlen, bleibt die Debatte rein spekulativ.
Ob sich ein beliebiges Land die Zahlung eines Grundeinkommens leisten kann, ist abhängig vom gezahlten Betrag, der Gestaltung der Maßnahme – ob beispielsweise andere Sozialleistungen oder Unterstützungen dadurch ersetzt werden – und dem Finanzhaushalt des Landes.
Schätzungen darüber, was sich die Regierungen derzeit leisten könnten, weisen auf ein ziemlich niedriges realistisches Grundeinkommen hin. The Economist hat für 34 OECD-Staaten die fiktive Höhe der Zahlung berechnet, sofern alle nicht gesundheitsbezogenen Beihilfen gestrichen werden. Die großzügigste hypothetische Leistung gibt es dabei in Luxemburg: Mit einem Pro-Kopf-BIP von 100.300 US-Dollar könnte sich das Land eine jährliche Zahlung von 17.800 US-Dollar leisten. An zweiter Stelle folgt Dänemark. Dank Steuereinnahmen in Höhe von 49,6 Prozent des BIP könnten hier jährlich 10.900 US-Dollar ausgezahlt werden. In den USA betrüge die Zahlung bei den derzeitigen Steuersätzen 6.300 US-Dollar. Um jährlich 12.000 Dollar zahlen zu können (60 Dollar unter der offiziellen Armutsgrenze), müssten die Steuereinnahmen um zehn Prozent des BIP steigen.
Im Juni 2016 fand in der Schweiz eine Volksabstimmung über einen Antrag für ein Grundeinkommen statt, der nur von 23,1 Prozent befürwortet wurde. Einer der Gründe für die Ablehnung war, dass die Maßnahme als unbezahlbar wahrgenommen wurde. Auf dem Stimmzettel stand kein genauer Betrag, Wahlhelfer sprachen aber von 30.000 Schweizer Franken (rund 27.500 Euro).
Einiges deutet darauf hin, dass sich auch kleine Summen positiv auswirken. So reduzierte etwa die an Bedingungen geknüpfte Beihilfe Bolsa Família die Armut in Brasilien, obwohl hier im Durchschnitt monatlich weniger als 178 Real (49 Euro) pro Familie ausgezahlt werden. Bezugsberechtigt sind Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 170 Real (47 Euro), und 13,6 Millionen erhalten die Sozialleistung.
Die aus den Öleinnahmen finanzierte Permanent Fund Dividend in Alaska erreichte 2015 mit 2.072 US-Dollar ihren Höchstwert, und dennoch ergeben sich daraus, wie Scott Goldsmith (University of Alaska) in einer Studie von 2010 ermittelte, geschätzte 900 Millionen US-Dollar zusätzliche Kaufkraft jährlich – was in etwa dem Einzelhandelssektor Alaskas entspricht.
In einigen Konzepten fällt die Zahlung an wirklich jedermann der Finanzierbarkeit zum Opfer. Indien beispielsweise erwägt ein „quasi allgemeines“ Grundeinkommen von 7.620 Rupien (rund 106 Euro) pro Monat. Damit das Konzept funktioniert, kann die Leistung nach Schätzungen der Regierung allerdings nur an 75 Prozent der Bevölkerung ausbezahlt werden. Ideen zu Einschränkungen der Inanspruchnahme wären unter anderem die Veröffentlichung von Verstößen und eine Bedürftigkeitsprüfung anhand von Besitztümern wie Autos oder Klimaanlagen.
Die obigen Überlegungen gehen davon aus, dass die Gesellschaft mehr oder weniger ihre derzeitige Form beibehält. Sollte es aber tatsächlich zu Massenarbeitslosigkeit im Technologiesektor kommen, lautet der Vorschlag von Bill Gates und einigen anderen, Roboter zu besteuern.
Gates steht, wie gesagt, dem Grundeinkommen skeptisch gegenüber und betrachtet eine solche Steuer als Möglichkeit, „den Technologisierungsprozess etwas zu bremsen und uns zu überlegen: ,Gut, was tun wir mit den Bevölkerungsgruppen, auf die das eine ziemlich große Auswirkung hat? Welche Übergangsregelungen haben funktioniert und welche Unterstützungen benötigen sie?‘“
Diese Steuereinnahmen könnten theoretisch ein Grundeinkommen finanzieren, wie auch der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten Benoît Hamon vorschlug.
Am Nächsten kommen empirischen Daten über die Auswirkungen eines allgemeinen Grundeinkommens die Ergebnisse des „Mincome“-Experiments, bei dem von 1974 bis 1979 zwei Bevölkerungsgruppen im kanadischen Manitoba ein garantiertes Mindesteinkommen erhielten. Eine der „Gruppen“, die Stadt Dauphin, war die sogenannte „Durchdringungsgruppe“, in der jedermann eine Zahlung erhielt. Politiker störten sich zwar massiv an dem ohne Abschlussbericht beendeten Projekt, doch ermittelten in den 1980er Jahren Wirtschaftsforscher anhand dieser Daten, dass Zweitverdiener weniger arbeiteten, während die Hauptverdiener ihr Verhalten kaum änderten.
2011 machte sich Evelyn Forget von der University of Manitoba auf die Suche nach einer Erklärung und verglich in einer Studie die Ergebnisse aus den 1980er Jahren mit Gesundheitsdaten. Wie sie herausfand, arbeiteten besonders zwei Gruppen weniger: verheiratete Frauen und junge Männer. „Verheiratete Frauen neigten dazu, die Zeitspanne, die sie nach der Geburt eines Kindes daheimblieben, zu verlängern“, sagte Forget im Februar gegenüber Investopedia. „Sie erkauften sich mit dem Grundeinkommen quasi eine verlängerte Elternzeit.“ Zu den jungen Männern sagte sie: „Wir fanden in diesem Zeitraum in Dauphin einen deutlich gestiegenen Prozentsatz an Highschool-Abschlüssen junger Männer im Vergleich zum übrigen ländlichen Manitoba.“ Familienversorger gaben keineswegs ihre Arbeitsplätze auf, um dem Alkohol oder anderen außerplanmäßigen Aktivitäten zu frönen; tatsächlich nahmen diese Verhaltensweisen möglicherweise ab. Klinikaufenthalte verringerten sich um 8,5 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe, speziell die Unfälle, die laut Forget „Arbeitsunfälle, Agrarunfälle, Autounfälle und häusliche Gewalt“ umfassten.
Andererseits ergaben vier etwa zeitgleich in den USA durchgeführte Experimente zur negativen Einkommenssteuer, dass die Hauptverdiener für ein Drittel der um 13 Prozent verringerten Arbeitsleistung der Gesamtfamilie zuständig waren. Diese Ergebnisse trugen maßgeblich zum Rückgang der politischen Unterstützung für ein garantiertes Grundeinkommen bei; eine gestiegene (und, wie sich später zeigte, gefälschte) Scheidungsrate in afroamerikanischen Familien erledigte den Rest.
Das bereits erwähnte Bolsa-Família-Programm in Brasilien macht dahin gehend Hoffnung. Das Programm gewährt seit 2004 armen Familien eine geringe Bargeldsumme, wenn diese ihre Kinder in die Schule und zum Arzt schicken. Die Armutsquote des Landes fiel von 26,1 Prozent im Jahr 2003 auf 14,1 Prozent im Jahr 2009; der Anteil der sehr Armen fiel von 10 Prozent auf 4,8 Prozent. Schätzungen zufolge warBolsa Famíliazwischen 2007 und 2009 für 59 Prozent des Rückgangs der Armutsquote und 140 Prozent des Rückgangs der extremen Armut verantwortlich (diese Quoten wären sonst gestiegen). Der Gini-Koeffizient, ein Maß für soziale Ungleichheit, fiel zwischen 2003 und 2009 von 0,580 auf 0,538, unter anderem wegenBolsa Família.
Im Bereich Entwicklungshilfe werden Bargeldzahlungen mittlerweile Sachleistungen vorgezogen. Dachte man früher, die Empfänger würden das Geld verschwenden, mussten die wohlmeinenden Gönner feststellen, dass sie selbst nicht viel besser waren. Afrika ist voller kaputter Wasserpumpen, deren Spender keine Vorkehrungen für eventuelle Reparaturen getroffen hatten.
Geldspenden scheinen dagegen erstaunlich gut zu funktionieren. In einer Studie von 2013 fanden Johannes Haushofer und Jeremy Shapiro vom MIT heraus, dass nicht an Bedingungen geknüpfte Bargeldzahlungen an kenianische Familien die Hungertage der Kinder um 42 Prozent verringerten. Gleichzeitig wurden um 51 Prozent mehr Nutztiere gehalten.
Manche Ziele sind jedoch durch Bedingungen besser erreichbar. So besuchten beispielsweise in Malawi mehr heranwachsende Mädchen die Schule, wenn eine Geldbeihilfe ohne Bedingungen gewährt wurde – den Schulbesuch zur Voraussetzung für die Beihilfe zu machen zeigte aber eine deutlich größere Wirkung.
Mit etwas Glück sind Fragen über die Auswirkungen des Grundeinkommens in naher Zukunft einfacher zu beantworten, denn das erste Mal seit den 1970er Jahren sind die politische Mitte und Gelehrte von der Idee begeistert und Experimente geplant. Zusätzlich zu Finnland, Indien, Oakland (USA) startet nun auch Ontario (Kanada) einen Versuch.
Bis die Ergebnisse verfügbar sind, bleibt ein allgemeines Grundeinkommen jedoch eine unsichere, aber verlockende Vorstellung. Jedem Geld in die Hand zu drücken – kann es tatsächlich so einfach sein, Armut und Behördenwillkür zu beenden, die Gefahren der Massenarbeitslosigkeit zu neutralisieren und den gesellschaftlichen Wert von sinnvollen, aber unrentablen Bestrebungen zu steigern?
Der brasilianische Autor und frühere Senator Eduardo Suplicy zitierte dazu aus den „Gesprächen“ des Konfuzius: A saída é pela porta – „Der Weg hinaus führt durch die Tür.“
Quelle: redaktionelle Überarbeitung eines Investopedia.com-Beitrags vom 24.04.2017, http://tinyurl.com/llq88wb
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