NEXUS Magazin: https://www.nexus-magazin.de/artikel/lesen/der-staat-ist-das-groesste-monopol-ansichten-eines-libertaeren


Der Staat ist das größte Monopol: Ansichten eines Libertären

StaatMonopolKapitalismus und Neoliberalismus haben keinen guten Leumund. Dabei wurzeln beide Begriffe in einer Idee, die nichts anderes bedeutet als freie schöpferische Selbstentfaltung. Ein Gespräch über das Zwangsmonopol Nr. 1 und den Weg in die Selbstverantwortung.


DW: Chris, ich hatte dich ja schon in Heft 91 vorgestellt, wo wir über die Grundrechte-Demos gesprochen haben. Hier soll es um deine Lebensphilosophie gehen, den Libertarismus. Die Demos sind mir ein ganz guter Aufhänger, denn einige Kritiker der aktuellen Maßnahmen sind ja überzeugt, dass es bei all dem um weit mehr geht als um Corona – nämlich um einen „Great Reset“, einen Neustart des Finanzsystems. Dass da im Hintergrund mehr geplant ist, nämlich die vierte industrielle Revolution, bestätigt ja nicht nur Klaus Schwab, der Chef des WEF, sondern auch der ehemalige parlamentarische Berater des Bundestages Sebastian Friebel, der jüngst mit seinem Dokument „Wie soll es weitergehen?“ an die Öffentlichkeit getreten ist. Meine Frage an dich als Libertären wäre: Wir haben jetzt Privatleute wie Eric Schmidt, Marc Zuckerberg oder Bill Gates. Alle haben offenbar zum richtigen Zeitpunkt die richtige Geschäftsidee gehabt und sind mit ihren Unternehmen innerhalb kürzester Zeit zu globalen Riesen herangewachsen, für die Staaten wie Zwerge wirken. Sie alle zahlen, soweit ich weiß, kaum Steuern, weil sie das Geld und die Macht haben, den Staat auszutricksen. Sie sind auch viel agiler als die trägen, demokratischen Staatsstrukturen. Ist das nicht die Vision der Libertären? Menschen, die ihre Visionen ohne Staatszwang unter die Leute bringen und mit ihren brillanten Ideen Geld verdienen? Haben Unternehmen wie Facebook und Google nicht das Ideal der Libertären verwirklicht?

CS: Ihre Gründer hatten gute Ideen und waren noch dazu fleißig. Milliarden von Menschen nutzen freiwillig ihre Produkte. Es scheint, als würde ihr Erfolg auf freiwilligem Austausch beruhen, was dem libertären Ideal entspräche. Jedoch kann man schlecht sagen, sie würden den Staat austricksen oder ihm überlegen sein. Es ist schlicht so, dass sie im beiderseitigen Interesse mit dem Staat zusammenarbeiten. Sie sind zwar nominell privat, tatsächlich gehören sie jedoch zum tiefen Staat – und dieser steht dem libertären Ideal diametral gegenüber.

Der Stanford Research Park, das sogenannte Epizentrum von Silicon Valley, entstand 1951 auf Initiative von Frederick Terman, der im Zweiten Weltkrieg in der elektronischen Kriegsführung tätig war. Facebook und Google haben Verbindungen zum Pentagon, zur CIA und zur NSA. Wer sich für die Hintergründe interessiert, dem kann ich „The Secrets of Silicon Valley“ von James Corbett empfehlen (CorbettReport.com/siliconvalley). Der nationale Sicherheitsapparat und Big Tech arbeiten gemeinsam daran, Menschen zu überwachen und zu analysieren, die Bewegungen großer Gruppen von Menschen in ihren Zusammenhängen zu begreifen, Trends zu identifizieren und neuralgische Punkte zu finden, an denen man die Bewegungen von Individuen und Gruppen umleiten kann, ohne dass die Menschen diese Manipulation bewusst wahrnehmen.

Silicon Valley gehört zur wissenschaftlich-technologischen Elite, vor der Eisenhower in seiner Rede über den militärisch-industriellen Komplex warnte. Google, Facebook und Co. zensieren aktuell entscheidende Informationen zu den wichtigsten Fragen unserer Zeit und verengen somit das Spektrum zugelassener Meinungen ganz im Sinne der Machteliten – und zwar schneller, als scheinbar demokratische Regierungen dies auch nur zu träumen wagten. Wir sehen hier die Korporatokratie. Private und staatliche Akteure, die häufig in den gleichen Denkfabriken sitzen, regieren gemeinsam und spinnen dabei ein komplexes Netz: den tiefen Staat.

Wir erleben aktuell, wie dieses System immer tiefer in das Leben jedes einzelnen Menschen eingreift und zunehmend global agiert. Darum geht es beim „Great Reset“ – es ist eine Selbstermächtigung des tiefen Staates über die Menschen der Erde.

Demgegenüber steht das libertäre Ideal der Dezentralisierung von Macht. Anstatt irgendjemandem ein System aufzuzwingen, setzen Libertäre auf das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen.

DW: Das Problem der Korporatokratie durchzieht ja den ersten Band deiner geplanten Trilogie „Generation Mensch“. Du hast der Einleitung ungewöhnlicherweise mehrere Seiten mit Begriffsdefinitionen folgen lassen. Warum war dir dieser Definitionsteil so wichtig?

CS: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig“, schrieb Kurt Tucholsky. Viele haben zwar eine ganz gute Ahnung davon, was auf der Welt schiefläuft und wie es besser laufen könnte – aber wenn es darum geht, das alles präzise zu beschreiben, scheitern die meisten leider kläglich. Ich vermisse die wissenschaftliche Genauigkeit im Diskurs über Wirtschaft und Politik. Das ist tragisch, denn pointierte Kritik und klare Visionen sind notwendig, um den Fokus für gezielte Veränderungen zu schaffen.

Korporatokratie ist ein sperriger, moderner Begriff. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich ihn freihändig aufsagen konnte. Viele sagen lieber Korporatismus, jedoch wurde dieser Begriff historisch meist im Sinne einer offenen Partnerschaft von Wirtschaft und Politik benutzt, wohingegen die Korporatokratie von Hinterzimmerabsprachen geprägt ist.

Korporatokratie kommt vom lateinischen Wort für Körper und spielt auf Körperschaften an, die gemeinsam regieren. Körperschaften sind Organisationen, die einen bestimmten Zweck verfolgen und auch dann weiterbestehen, wenn sich ihre Mitgliederstruktur ändert. Das sind sowohl private Banken, Rüstungs-, Medien-, Energie- und Technologieunternehmen als auch staatliche Geheimdienste, Behörden und Institutionen. Denkfabriken gehören auch dazu – alle Akteure, die offen oder im Verborgenen an der tatsächlichen Regierung der Gesellschaft beteiligt sind. Wer eine Gesellschaft regiert, ist per Definition der Staat, deshalb verwende ich Korporatokratie und tiefer Staat synonym.

Das ist keine Gruppe von ein paar wenigen Erzbösewichten – jedenfalls nicht, dass ich wüsste –, sondern ein Milieu von mächtigen Interessengruppen, die alle wichtigen Fragen unter sich ausmachen, während das Volk nur wenig Einfluss auf politische Entscheidungen hat.

DW: Ist es nicht genau das, was inzwischen Hinz und Kunz unter den Begriffen Kapitalismus oder Neoliberalismus geißelt? Auch Klaus Schwab hält ja den Neoliberalismus für die Wurzel des aktuellen Übels und wirbt für ein neues, nachhaltiges Wirtschaften.

CS: Wenn du Leute auf der Straße fragst, was Kapitalismus ist, sagen sie „Gier, Ausbeutung und Profite über alles“. Jetzt frage ich dich, waren die Regierenden in sozialistischen Staaten etwa keine gierigen Ausbeuter, die stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren?

Wenn du ein paar Wirtschaftslexika zurate ziehst und den Inhalt abkochst, bleiben für den Kapitalismus genau zwei Wesenszüge: Privateigentum und freier Markt. Alle haben das Recht, sich Privateigentum anzueignen und dies so zu nutzen, wie es ihnen beliebt, solange sie dabei nicht das Eigentum oder das Selbstbestimmungsrecht eines anderen verletzen. Selbstbestimmung und Herrschaft schließen sich gegenseitig aus. Kapitalismus in Reinform ist demnach Anarchie, die Ablehnung von Herrschaft. Im aktuellen Kontext von Kapitalismus zu sprechen, ist also ein weit verbreiteter Irrtum, ähnlich wie von Platzangst zu sprechen, wenn man Angst vor zu engen Räumen meint.

Neoliberalismus klingt zunächst, als würde sich dahinter mehr verbergen als hinter dem abgedroschenen Wort Kapitalismus, als wäre dieser Begriff erfunden worden, weil er noch präziser ist. Tatsächlich gab es jedoch noch nie eine klare Definition, der Begriff wurde endlos umgedeutet und ist dabei zu einem diffusen Kampfbegriff verkommen, auf den jeder seine Verachtung für die aktuellen Verhältnisse projiziert.

In der öffentlichen Debatte wird Neoliberalismus heute meist über ungezügelte freie Märkte und Privatisierungen von Staatseigentum definiert. Offensichtlich wissen die meisten nicht, was Markt bedeutet. Markt ist einfach nur das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage – freiwilliger Austausch. Ist freiwilliger Austausch charakteristisch für das heutige System? Wie sind die Banken so groß geworden oder die Rüstungs­unternehmen? Wir bezahlen die nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Staat und Unternehmenseliten arbeiten Hand in Hand, um zwischenmenschlichen Austausch – nichts anderes ist der Markt – zu ihren Gunsten zu manipulieren.

Was Privatisierungen angeht, so gibt es da verschiedene Modelle. Hier muss man unterscheiden. Du kannst Staatsvermögen privatisieren, indem du es gleichmäßig an alle Staatsbürger verteilst – beispielsweise pro Kopf oder im Verhältnis zu bereits gezahlten Steuern. Das wäre eine Privatisierung. Du kannst das Staatsvermögen aber auch an deine Kumpels verschenken – beispielsweise indem du die gesamte Wasserversorgung des Landes für läppische 20.000 Dollar an ein Konsortium verscherbelst, so geschehen 1999 in Bolivien. Auch das ist eine Privatisierung. Was die Korporatokratie ständig und überall abzieht, ist das zweite Modell. Wenn man nur auf Privatisierungen an sich schimpft, fehlt ein entscheidendes Element in der Analyse, nämlich die Privatisierung zugunsten einer staatsnahen Minderheit.

Klaus Schwab verwischt die Spuren der Koporatokratie, wenn er über den Neoliberalismus, den Kapitalismus und den freien Markt herzieht. Er verteufelt freiwilligen Austausch und Privateigentum – das ist ein Appell gegen individuelle Freiheit und für mehr zentrale Planung durch eine gütige Regierung zum Schutz des Menschen vorm Menschen. Das kommt bei vielen Systemkritikern gut an. Was dabei jedoch ständig übersehen wird, ist die Frage, wer uns dann vor der Regierung schützt.

DW: Hmm, okay. Aber irgendwie ist mir immer noch nicht klar, was genau den Neoliberalismus vom Liberalismus und Libertarismus unterscheidet.

CS: Ursprünglich ging es beim Liberalismus darum, Menschen vor Willkürherrschaft zu schützen. Seit der Progressiven Ära und besonders mit dem New Deal in den 1930ern wurde der Liberalismus jedoch umgedeutet. Plötzlich ging es nicht mehr darum, Menschen vor staatlicher Willkür zu schützen, sondern sie mit vermeintlichen Hilfsprogrammen noch freier zu machen – ganz so, als wäre jede Form von Sozialhilfe ein Segen und als wäre ein Sozialstaat immun dagegen, jemals in Willkür auszuarten. Heute gilt die Demokratische Partei als Verkörperung des Liberalismus, somit ist zumindest das Wort noch in aller Munde, vor allem in den USA und der Anglosphäre. In Deutschland ist Liberalismus bestenfalls eine rückgratlose Randerscheinung.

Neoliberalismus wurde Mitte des 20. Jahrhunderts popularisiert und ist heute in erster Linie eine Fremd­bezeichnung für den Modus Operandi der Korporatokratie. Klassische Liberale gingen daher dazu über, sich als Libertäre zu bezeichnen, um sich sowohl vom Neo­liberalismus als auch vom Liberalismus in seiner neuen Bedeutung als Sozialstaatstechnokratie abzugrenzen.

Bis heute steht Libertarismus für das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen und somit für die Ablehnung von Herrschaft, die letztlich nur eine zivilisierte Form der Sklaverei ist. Carl von Clausewitz schrieb: „Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Fast allen leuchtet das auf Anhieb ein, trotzdem übersehen die meisten den logischen Umkehrschluss. Politik ist demzufolge ebenfalls eine Form des Krieges, nur mit anderen Mitteln. Jeder Staat führt einen immerwährenden Präventivkrieg gegen seine Bürger. Alle staatlichen Zwangsmaßnahmen werden damit legitimiert, dass nur ein Gewaltmonopolist einen Zustand der Gesetzlosigkeit, der Anomie, verhindern könne und müsse. Weil wir uns der staatlichen Autorität für gewöhnlich in jedem Punkt beugen, ist es eine Art kalter Krieg. Dennoch ist es ein Krieg, denn wir werden unter Androhung von Gewalt zur Akzeptanz staatlichen Zwangs genötigt. Etatisten, das heißt Staatsbefürworter, glauben, dieser Krieg sei notwendig, weil Menschen nicht mit Selbstverantwortung umgehen können. Libertäre glauben, dieser Krieg muss beendet werden, weil Menschen nicht mit Herrschaft umgehen können.

Eine libertäre Gesellschaft ist dennoch keine vollkommen gewaltfreie Utopie. Auch dort gibt es Psychopathen, die andere Menschen missbrauchen und ausbeuten. Der große Unterschied zu einer staatlichen Gesellschaft ist nur, dass Psychopathen aufgrund der fehlenden Herrschaftsprivilegien weniger Hebelwirkung entfalten können.

DW: Das klingt, als wäre der Staat die Wurzel allen Übels. Ist es wirklich so schlimm?

CS: Das staatliche Gewaltmonopol ist der beste Nährboden für Willkür. Betrachtet man die Schreckensherrschaften, Kriege und Völkermorde der Geschichte, stößt man immer wieder auf staatlichen Autoritarismus gekoppelt mit Obrigkeitshörigkeit. Allein im 20. Jahrhundert starben weltweit 262 Millionen Menschen durch Demozid, also als Opfer von Staaten im Zuge von Kriegen, planwirtschaftlich verursachten Hungersnöten, Völkermorden, politischen Verfolgungen und so weiter. Dies übersteigt die Zahl der Menschen, die im gleichen Zeitraum von Privatpersonen ermordet wurden, um das Dreißigfache.

Massenmord in dieser Größenordnung lässt sich nur per Zwang durchsetzen – mit staatlicher Herrschaft und einem gefügigen Volk. Die größte Gefahr für die Menschheit sind also nicht einzelne Psychopathen, die sich den Regeln des friedlichen Zusammenlebens widersetzen, sondern gleichgeschaltete Massen, die psychopathischen Herrschern folgen.

Psychopathen streben überdurchschnittlich häufig eine Karriere in der Politik an, sie werden geradezu magisch von Machtpositionen im Staat angezogen. Anstatt ihnen jedoch den Zugang zu politischen Ämtern zu verwehren, belohnen moderne demokratische Gesellschaften den Machthunger von Psychopathen sogar noch, denn leider neigen Menschen dazu, Arroganz mit Kompetenz zu verwechseln. Die Studien dazu sind in meinem Buch. Wir wählen also ständig Psychopathen in die Politik, weil wir ganz naiv glauben, sie wüssten wirklich, wovon sie sprechen.

DW: Es gibt ja auch heute im libertären Spektrum verschiedene Lager. Kannst du dich da selbst irgendwo einordnen? Vor allem auch im Hinblick auf die Frage, die ja schon in deinen Antworten durchklang: Wie viel Staat hältst du für nötig?

CS: Wenn man weiß, dass Herrschaftsprivilegien den Charakter verderben, wieso sollte man dann an einem System festhalten, das auf Herrschaft basiert? Wie ich in „Generation Mensch“ empirisch und anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Psychologie von Individuen und Gruppen darlege, neigen Menschen in Herrschaftspositionen dazu, ihre Macht zu missbrauchen. Umgekehrt lässt sich nachweisen, dass Selbstverantwortung und eine konsequente Rechenschaftspflicht tendenziell die Güte im Menschen fördern. Zudem trifft das Konzept „Jeder Mensch gehört sich selbst“ in meinem Herz auf Resonanz. Insofern ist eine vom Staat befreite Privatrechtsgesellschaft mein Leitstern.

Manche nennen sich libertär und ziehen willkürlich Grenzen, was der Staat doch noch tun sollte. Auch unterscheiden sich Libertäre darin, wie sie gesellschaftliche Abläufe organisieren wollen – nur Kollektive und Non-Profits, oder dürfen auch gewinnorientierte Einzelunternehmen mitspielen? So wie ich das sehe, sollten alle Formen erlaubt sein. Je nach Zweck und Interessenlage kann man verschiedene Modelle wählen. Die libertäre Privatrechtsgesellschaft fungiert dabei als neutraler, fruchtbarer Nährboden, auf dem verschiedene Organisationsformen friedlich miteinander und nebeneinander gedeihen können. Was praktisch ist, floriert. Funktioniert etwas nicht, probiert man etwas anderes – ganz ohne Zwang.

Freiwillig gewählte und zu jeder Zeit individuell abwählbare Dienstleister können das Staatsmonopol in allen Gesellschaftsbereichen ersetzen, egal ob in Bildung, Sicherheit, Gesundheit oder Sozialwesen. Das bringt Frieden, setzt Kreativität frei und schafft Wohlstand.

Wenn ich das so erkläre, höre ich an dieser Stelle immer wieder die Frage, ob ein Dienstleister nicht zu groß werden und alles kontrollieren könnte. Und was schlagen mir die Leute dann vor? Man bräuchte einen Staat, um das zu verhindern. Damit schafft man aber genau das, was man eigentlich verhindern will: ein Monopol.

Mir kommt es vor, als würden sich die Menschen immer wieder an der gleichen Herdplatte verbrennen – weil sie einfach so verlockend ist. Ich vergleiche den Staat oder Herrschaft an sich daher gerne mit dem Einen Ring aus „Herr der Ringe“, weil die Staatsmacht genau wie der Ring selbst den würdigsten Menschen unablässig verführt und korrumpiert. So wie der Ring im Schicksalsberg vernichtet werden musste, sollten wir das Ziel nie aus den Augen verlieren, uns letztlich der Staatsmacht zu entledigen.

DW: Also bist du im Grunde Anarchist?

CS: In ihrer letzten Konsequenz bedeuten Anarchie, Libertarismus, Kapitalismus, Voluntarismus oder auch Agorismus allesamt das Gleiche: Gewaltfreiheit, Privateigentum und freier Markt. Jeder Mensch gehört sich selbst und entscheidet selbst, mit wem er zu welchen Bedingungen kooperiert.

DW: Wie war deine persönliche Entwicklungsgeschichte eigentlich? Wie bist du zum Libertären bzw. zum Verfechter der libertären Idee geworden?

CS: Seit ich mich erinnern kann, sind die Nachrichten voll von Politikversagen. Ich träumte von einer besseren Welt und wollte mich schon früh politisch positionieren. Damals glaubte ich noch an das Links-Rechts-Schema und daran, dass westliche Regierungen in der politischen Mitte wären. Blieben also nur noch links und rechts. Rechts fiel dabei für mich aus, da sind die Nazis. Also sah ich mich als links. Ich wollte Gerechtigkeit und Frieden für alle und glaubte, der Staat müsste hierzu nur den richtigen Plan entwickeln, eine detaillierte Blaupause, die man dann konsequent umsetzt.

Libertarismus existierte für mich nicht, bis ich Ron Paul in der „Alex Jones Show“ hörte. Mir gefiel, wie klar, einfach und überzeugend die Libertären wichtige moralische und politische Fragen lösen. Trotzdem kamen gerade zu Beginn auch immer wieder Bedenken in mir auf, ob man allein über Selbsteigentum auch wirklich Frieden, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit für alle schaffen könnte oder ob es in eine Diktatur der Stärksten entarten würde.

Im nächsten Schritt habe ich studiert, mir Theorie und Evidenz angesehen. Das hat mich überzeugt. Die Ergebnisse meiner Recherchen sind im ersten Band von „Generation Mensch“. Weil die libertäre Idee konsequent zu Ende gedacht dem Konzept von Patenten und Copyrights widerspricht, kann man das Buch auch kostenlos herunterladen.

DW: Die Idee des freien Marktes ohne Staat würde dann ja auch bedeuten, dass wir niemanden mehr wählen müssten. Wie würdest du Entscheidungen treffen, die für die gesamte Gesellschaft von Interesse sind?

CS: Was ist denn für die gesamte Gesellschaft von Interesse? Gibt es irgendeine Frage, in der sich alle einig sind? Ich denke, jeder hat subjektive Interessen. Also ist die eigentliche Frage, wie man am besten all diese Partikularinteressen berücksichtigt. Man tut dies, indem man jedem das Recht zugesteht, seine eigenen Interessen zu vertreten.

Gibt es keinen Staat, vertritt man seine Interessen auf dem Markt – entweder als Nachfrager oder als Anbieter. Du wählst, was du tust, mit wem du zusammenarbeitest, wofür du dein Geld ausgibst und wem du deine Waren oder Dienste verkaufst. Aus souveränen Einzelentscheidungen ergibt sich dann organisch ein Kompromiss in Bezug auf das, was für die gesamte Gesellschaft von Belang ist.

DW: Lass uns noch ein paar konkrete Punkte ansprechen, die immer wieder als Kritik an der libertären Idee aufgebracht werden. Nehmen wir das Thema Regulierung: Ein Unternehmensriese wie Monsanto stellt GMO-Getreide und Pestizide her und bringt die Bauern dazu, es zu kaufen. Nachhaltig ist das nicht, geschweige denn gut für die Umwelt. Gemacht wird es trotzdem. Braucht es da keine Regulierung von oben?

CS: Monsanto ist formell privat, de facto gehört es jedoch zum tiefen Staat. Wir sehen das, wenn Monsanto-Lobbyisten Gesetze schreiben. Monsanto vergiftet Mensch, Tier und Umwelt – und das auch noch völlig legal. Das ist das Ergebnis staatlicher Regulierung. Zudem profitiert Monsanto von Agrarsubventionen, von staatlichen Patentrechten und wird von steuerbefreiten Stiftungen gefördert, die ebenfalls zum tiefen Staat gehören.

Es braucht also viel eher Regulierung von unten. Je besser wir Eigentumsrechte schützen, desto weniger lukrativ wäre es, andere und ihr Eigentum zu vergiften. Mit so etwas kommt man nur davon, wenn man das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat.

DW: Hmm, ich weiß nicht so recht. Ich kenne jetzt Mon­santos Geschichte nicht bis ins Detail, aber Roundup war doch ein Verkaufsschlager, den die Bauern freiwillig eingekauft haben, weil er das Unkraut so geil klein machte. Die Konsequenzen waren doch vielen erstmal egal. Oder denken wir an gesundheitsschädliche Dinge wie Zucker in Kinderprodukten und den ganzen miesen, billigen Süßkram – das muss man den Kindern nicht unbedingt aufzwingen. Muss man den Menschen in solchen Fällen nicht vor sich selbst behüten? Oder zumindest die Dummen vor den Intriganten?

CS: Bauern sind süchtig nach RoundUp, weil es eine legale Droge für die Landwirtschaft ist. Genau wie andere Drogen könnte man RoundUp in einer Privatrechtsgesellschaft kaufen und nutzen. Sobald diese Droge jedoch Unbeteiligte oder deren Eigentum schädigt, entsteht ein Anspruch auf Schadenersatz. Wenn der Hersteller zudem fälschlicherweise behauptet, die Droge hätte keine Nebenwirkungen, hätten die Bauern ebenfalls Anspruch auf Schadenersatz. Dies würde den Preis für die Droge indirekt in die Höhe treiben. Wenn das passiert, merkt man recht schnell, dass Permakultur sehr viel geiler ist, weil es unterm Strich günstiger und ergiebiger ist.

Menschen vor Betrügern und allgemein vor Schaden zu schützen ist den meisten ein wichtiges Anliegen. Es besteht also eine Nachfrage nach Verbraucherschutz­organisationen, Gerichten, Prüfstellen, Vergleichsportalen und so weiter. Heute will der tiefe Staat am liebsten alles monopolistisch regulieren. In einer Privatrechtsgesellschaft gäbe es tendenziell mehr solcher Institutionen, sie würden transparenter arbeiten und somit ihren Zweck besser erfüllen als ein zwangsfinanzierter Monopolist.

DW: Ein anderer Bereich wäre das Gesundheitswesen. Mittel, die gesund machen, sind de facto kein dauerhafter Markt. Für Unternehmer in diesem oder ähnlichen Bereichen lohnt es sich, die Leute in Abhängigkeit zu halten. Wie willst du so etwas unterbinden? Oder nehmen wir die derzeitige Situation: Immer mehr Kliniken wurden privatisiert, haben sich auf Effizienz eingerichtet – und nun kommt eine etwas stärkere Erkrankung daher und uns gehen die Betten aus. Wäre da ein staatliches, von der Gemeinschaft getragenes System nicht besser?

CS: Reflektiere deine Konditionierung, deine eingeimpfte Staatsgläubigkeit. Du sagst „ein staatliches, von der Gemeinschaft getragenes System“, als ob staatlich gemeinschaftlich bedeutet und privat das Gegenteil. Staatlich heißt schlicht zwangsfinanziert und monopolistisch reguliert, privat heißt dezentral reguliert und freiwillig finanziert.

Medizin, die gesund macht, ist sehr wohl ein dauerhafter Markt. Menschen wollen günstige und effektive Therapien, die Nachfrage ist also da, aber der Staat manipuliert den Markt gemeinsam mit der Pharmalobby. Sie verknappen das Angebot, indem sie Behandlungen verbieten oder nicht über Krankenkassen abrechnen lassen. Auch Patentrechte lassen die Preise für die Verbraucher steigen. Je teurer und ineffizienter die Behandlungen, desto höher sind die Profite des staatlich regulierten Pharmakartells.

Kliniken werden aktuell privatisiert, jedoch im Kontext eines staatlich regulierten Gesundheitssystems – das ist staatliche Kartellierung. So etwas privat zu nennen, wäre vermessen. Was helfen würde, wäre eine echte Privatisierung, also eben nicht das Kartell privaten Unternehmen zu überlassen, die groß absahnen, sondern das Kartell aufzulösen. Dann hätte man einen wirklich freien Markt, auf dem sich jeder frei für die medizinische Versorgung seiner Wahl entscheiden kann. Anbieter sind dann gezwungen, effizienter und günstiger zu werden, um gegen die Konkurrenz auf dem Markt zu bestehen. Aktuell verdient man in der Medizin das meiste Geld, wenn man den Staat auf seiner Seite hat. In einer Privatrechtsgesellschaft verdient man das meiste Geld, wenn man die Menschen auf seiner Seite hat.

DW: Wenn ich mir ein solches freies System so vorstelle, muss ich an die Frühzeit der USA denken ... oder zumindest, was ich so beim Lucky Luke lesen aufgeschnappt habe. Könnte da nicht jeder Quacksalber irgendwelchen Unsinn verkaufen? Und könnte man nicht an jeder Ecke beschissen werden? Klingt ziemlich riskant ...

CS: Jeder könnte einfach so drauflos doktern und du könntest dich von jedem behandeln lassen. Aber hättest du da Lust drauf? Wohl kaum. Aus der Nachfrage nach zertifizierten Experten ergibt sich die Regulierung auf dem Markt ganz organisch.

Es gäbe diverse medizinische Schulen, Prüfungen und kontrollierte Standards. Nur eben nicht monopolistisch reguliert und per Zwang durchgesetzt, sondern dezentral. Zusätzlich würde ich mich auch immer an den Patientenbewertungen orientieren. Je freier der Markt, desto umfangreicher und genauer sind die Bewertungsportale. Letztendlich will ich einfach nur die Behandlung, die funktioniert, da sind mir Urkunden an der Wand egal.

Natürlich würde es trotz allem vorkommen, dass Leute auf einem freien Gesundheitsmarkt dumme Entscheidungen treffen und darunter leiden. Wenn man das allerdings durch eine staatliche Regulierungsbehörde verhindern will, beweist man damit eine fatale Naivität gegenüber der Ineffizienz und der Korruptionsanfälligkeit eines Gewaltmonopolisten. Statt sich dem Staat anzuvertrauen, sollten wir auf die Schwarmintelligenz setzen. Da gibt es zwar immer mal Ausreißer, aber man ist sicher vor Lobbyisten und Politikern.

DW: Wie sieht es mit anderen sensiblen Bereichen aus: Militär, Geheimdienste, Gerichtsbarkeit, Verwaltung?

CS: Bist du aktuell zufrieden mit den Leistungen in diesen Bereichen? Falls nicht, welche Optionen hast du, etwas zu ändern? Du kannst alle vier Jahre deine Stimme für eine Partei abgeben. Du kannst vor Gericht klagen, aber wie weit man damit kommt, sehen wir anhand der Freisprüche in Verfahren gegen Polizeigewalt, anhand der illegalen Massenüberwachung oder auch anhand der internationalen Angriffskriege, in die unser Staat verwickelt ist. Praktisch niemand in der Politik oder im nationalen Sicherheitsapparat wird dafür belangt und du wirst sogar noch gezwungen, das alles zu bezahlen.

In einer Privatrechtsgesellschaft wird das alles entmono­polisiert und freiwillig finanziert. So gut wie jeder hat ein Interesse an Sicherheit und Ordnung, aufgrund dieser Nachfrage entsteht also natürlich ein Angebot. Du hast dann die Wahl zwischen Dienstleistern, wobei du dich wahrscheinlich für die entscheiden würdest, die deine Beiträge transparent und in deinem Sinne verwenden. Das heißt, es gibt Verträge, in denen genau steht, was du bezahlst und was du im Austausch dafür bekommst. Wird ein Dienstleister vertragsbrüchig, stellst du deine Zahlungen ein und klagst vor einem Gericht.

Würde ein Gericht zu lange mit Entscheidungen brauchen, zu teuer sein oder Urteile fällen, die in den Augen der meisten ungerecht wären, würde dieses Gericht nicht lange bestehen. Deshalb funktioniert das System. Heute hast du keine Wahl, sondern nur einen Monopolisten, der bestimmt, was du bekommst und was dich der ganze Spaß kostet. Wie gut das funktioniert, sehen wir jeden Tag.

Abgesehen vom Selbstbestimmungsrecht, das für alle gilt, gibt es in einer Privatrechtsgesellschaft unterschiedliche Rechtsnormen, wobei jeder entsprechend seiner Weltanschauung frei wählen kann, welche Norm für ihn gelten soll. In der Öffentlichkeit oder in Geschäften könnten die jeweiligen Teilhaber oder Eigentümer entscheiden, welche Regeln gelten. Dabei würden sich wahrscheinlich gewisse Standards herauskristallisieren, die vielerorts genutzt werden würden. Es wäre also übersichtlich und von der Gesetzesfülle höchstwahrscheinlich deutlich überschaubarer als heute, dafür sorgt die Nachfrage nach praktischen Lösungen. Kommt es zu Konflikten zwischen Personen mit verschiedenen Rechtsauffassungen, werden diese Streitfälle an unabhängige Schlichter übergeben, wobei sich beide Parteien auf einen Schlichter einigen. Würde man sich dieser Prozedur verweigern, würde man sich damit gesellschaftlich isolieren und letztlich trotzdem zur Verantwortung gezogen werden, denn eine polizeiliche und gerichtliche Aufarbeitung von Kriminalfällen ist in einer zivilisierten Gesellschaft ein Grundkonsens. In einer Privatrechtsgesellschaft ist die Rechenschaftspflicht jedes Einzelnen sogar noch deutlich ausgeprägter als in einer staatlichen Gesellschaft, wo die größten Kriminellen ständig vom staatlichen Gewaltmonopol geschützt werden.

Was das Militär angeht, höre ich immer sofort das Argument, private Söldnerfirmen würden die Welt unter sich aufteilen. Ich kann mir das nur mit kognitiver Dissonanz erklären, denn aktuell sind es die Söldner der Korporatokratie, die genau das tun. Was glaubst du, wird es schlimmer oder besser, wenn Söldner nicht mehr von den Bevölkerungen zwangsfinanziert werden und wenn sie nicht mehr vom Staat vor Anklagen geschützt werden? Profitabel sind Kriege im Grunde nur für Korporatokraten – für Regierungen und befreundete Unternehmen. Ich glaube kaum, dass Menschen freiwillig Geld dafür ausgeben würden, andere Menschen militärisch zu unterdrücken. Zudem würde sich in einer Privatrechtsgesellschaft kaum jemand finden, der so einen Auftrag annimmt, weil man keinen Staat hinter sich hat, der einen vor Anklagen schützt. Man hätte also alle gegen sich, die einfach nur in Frieden leben wollen – und das sind fast alle Mitglieder der Menschheitsfamilie.

Wir können das hier leider nur kurz anschneiden, im Buch gehe ich detailliert auf dieses Thema ein, weil diese Fragen nach Recht, Ordnung und Sicherheit so wichtig sind, um Menschen für den Libertarismus zu begeistern. Ich will hier nur noch erwähnen, dass man nicht alles in einzelnen Verträgen regeln müsste. Aufgrund der Nachfrage nach einfachen Lösungen würde es Dienstleister geben, die gebündelte Verträge anbieten, was Polizei, Gerichte, Gesundheit, Bildung und so weiter angeht.

DW: Wie sieht es mit der Infrastruktur aus? Gäbe es dann nicht an jeder zweiten Ecke eine andere Wasserversorgung? Andere Autobahnen? Andere Gerätenormen?

CS: Würdest du das praktisch finden? Also ich nicht. Alle wollen praktische Lösungen für solche Fragen, die Nachfrage besteht also. Man kann im Vorhinein nicht exakt vorhersagen, was in jedem Einzelfall die einfachste und günstige Lösung für die Verbraucher ist. Was man jedoch sagen kann, ist, wer auch immer diese Fragen am zufriedenstellendsten für die Verbraucher beantwortet, macht auf dem Markt das Rennen. Das führt zu einer Dezentralisierung, zu sinkenden Preisen und auch zu Vereinheitlichungen, wenn sich das als praktisch erweist. Auf die DIN-Norm hat man sich beispielsweise auch freiwillig geeinigt, einfach weil sie praktisch ist. Man kann in einer Privatrechtsgesellschaft auch globale Standards und sogar globale Institutionen haben.

Die Frage nach den Straßen ist ein absoluter Klassiker im Diskurs um den Libertarismus, das ist in meinem Buch ein eigenes Kapitel. Grundsätzlich ist bei Großprojekten oder auch beim Schutz großer Ökosysteme ein gewisser Überbau häufig zweckdienlich. Hierzu könnte man entweder gewinnorientierte Unternehmen beauftragen oder es in die eigene Hand nehmen, indem man Kollektive oder Non-Profits gründet. Das kann dann auch Ähnlichkeiten mit politischer Verwaltung haben. Wichtig ist nur, dass alle Beteiligten freiwillig mitmachen bzw. sich vertraglich dazu verpflichten.

Damit eine gemeinschaftliche Verwaltung von Ressourcen funktioniert, sollten gewisse Rahmenbedingungen beachtet werden. Für ihre Forschungen zu diesem Thema hat Elinor Ostrom 2009 als erste Frau überhaupt einen Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Laut ihren Untersuchungen erfolgt eine gemeinschaftliche Verwaltung am besten in einer rechtlich souveränen und klar definierten Interessengemeinschaft. Die Gemeinschaft muss die konkreten Regeln zum Schutz ihrer Ressourcen selbst entwerfen, anpassen und überwachen – unter Berücksichtigung ihrer spezifischen örtlichen und kulturellen Bedingungen. Jedes Mitglied der Gemeinschaft muss in vollem Umfang für seine Handlungen rechenschaftspflichtig und an der Überwachung der Regeln beteiligt sein. Eine Instanz zur kostengünstigen Schlichtung von Konflikten muss verfügbar sein. Wenn ein Mitglied die Regeln der Gemeinschaft wiederholt verletzt, muss sich die Strafe bei jeder erneuten Straffälligkeit erhöhen. All diese Faktoren sind in einer Privatrechtsgesellschaft ohne Weiteres umsetzbar, während man im staatlichen Rahmen in praktisch allen Punkten am Gewaltmonopol scheitert.

DW: Ein Grundproblem des heutigen Systems sehen die Libertären darin, dass der Staat auch ein anderes Monopol diktiert: das Geld. Was wäre der Vorteil von konkurrierendem Geld? Und haben wir mit Regiogeld, Tauschringen und Kryptowährungen nicht schon Alternativen, die wir nur nutzen müssten?

CS: Libertäre nennen das System von konkurrierenden Währungen freies Marktgeld. Da wundern sich jetzt vielleicht einige, hört man doch ständig vom ungezügelten Finanzmarkt. Tatsächlich ist der Finanzmarkt jedoch ganz und gar nicht ungezügelt, sondern extrem eingeschränkt. Indem jeder Staat in der Regel genau eine Fiat­währung – aus dem Nichts geschaffenes und mit nichts gedecktes Scheingeld – zum gesetzlichen Zahlungsmittel ernennt, hat diese Währung einen Monopolstatus. Innerhalb dieses Systems sind Zentral- und Geschäftsbanken tatsächlich ungezügelt, sie bilden gemeinsam mit dem Staat ein Geldschöpfungskartell und nutzen den Monopolstatus ihres Geldes, um die Menschen auszunehmen, die von diesem Geld abhängig sind.

Das ist, als würde der Staat nur einen Autohersteller zulassen. Zusammen diktieren Staat, Hersteller und Autohäuser dann Qualität und Preise. Würde man da von einem ungezügelten Automobilmarkt sprechen? Um so einen Automobilmarkt zu reformieren, würde wahrscheinlich keiner auf die Idee kommen, das Kartell strenger zu regulieren, so wie es heute in Bezug auf das Geldsystem andauernd gefordert wird. Man würde stattdessen darauf bestehen, den gesetzlichen Monopolstatus aufzuheben und damit das Kartell aufzulösen, sodass alle Autos bauen, handeln und nutzen können, wie sie wollen. Mit Geld ist es das Gleiche.

Jeder will wertstabiles Geld haben, die Nachfrage ist also gegeben. Damit eine Währung auf einem freien Währungsmarkt akzeptiert wird, muss sie selten, haltbar, homogen, prägbar, wertgeschätzt und transportabel sein. Die meisten libertären Ökonomen nehmen an, Gold und Silber würden sich auf einem freien Währungsmarkt durchsetzen. Letztlich ist es den Libertären aber egal, wofür sich Menschen als Zahlungsmittel entscheiden.

Die von dir erwähnten Modelle sind interessante Alternativen. Wenn man sich die Preisentwicklung von Bitcoin anschaut, kann einem echt schwindelig werden. Angesichts der Gelddruckorgien des Fiatgeldkartells wird das vermutlich auch so weitergehen. Die größten Schwächen der aktuellen Alternativwährungen ergeben sich leider aus der Tatsache, dass weiterhin ein Geldmonopol besteht. Um deine Steuern zu zahlen, musst du Alternativwährungen wieder umtauschen. Das ist ärgerlich, wenn Bitcoin plötzlich einbricht, was trotz des kometenhaften Aufstiegs immer mal wieder vorkommt. Zudem kann das Geldschöpfungskartell unbegrenzt Geld drucken, mit dem man Alternativwährungen aufkaufen oder allgemein ihren Wert manipulieren kann. Unterm Strich ist aber jede Initiative hilfreich, mit der man das Kartell untergräbt.

DW: Kommen wir nochmal zum Anfang zurück. Ich könnte mir vorstellen, dass Internetgiganten wie Google, Apple oder Amazon auch in einem libertären System so groß geworden wären – sie hatten einfach zur richtigen Zeit die richtige Idee, haben die Idee vorangetrieben, und die Menschen haben es genutzt. Passiert so etwas nicht automatisch, und sammelt sich dadurch nicht Macht und Einfluss allein durch den Anteil am Markt? Wer am besten ist, zu dem wollen doch die meisten. Wie will bzw. kann man so etwas überhaupt verhindern?

CS: Wenn sie doch heute eindeutig mithilfe des Staates so groß geworden sind, wie kommst du dann darauf, dass sie ohne den Staat genauso groß geworden wären?

Wenn ein Unternehmen allein durch freiwilligen Austausch zum Marktführer wird, warum sollte man das verhindern? Wenn sich der Einfluss eines Unternehmens darauf gründet, dass es die Bedürfnisse der Menschen am besten erfüllt und die Menschen daher gerne und freiwillig zu ihm kommen, ist doch alles in Ordnung, das ist eine Win-win-Situation. Sobald das Unternehmen die Nachfrage der Menschen nicht mehr optimal bedient, wird es ganz organisch wieder schrumpfen. Problematisch wird es nur, wenn das Unternehmen vom staatlichen Herrschaftsprivileg profitiert, dann greift die organische Regulierung über den Markt nicht mehr.

DW: Grundsätzlich finde ich die libertäre Idee nach wie vor attraktiv, aber wenn man sie gesamtgesellschaftlich umsetzen will, wüsste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte. Wie würde man deiner Meinung nach aus den aktuellen Verhältnissen in dieses System kommen?

CS: Zuallererst müssen die Menschen an sich selbst glauben. Solange Menschen ihre Eigenverantwortung an den Staat auslagern oder sich grundsätzlich einem Gruppenzwang beugen, wird unsere Zivilisation auf ein Desaster zusteuern. Alles dreht sich um Selbstverantwortung, das ist der Schlüssel zur Freiheit. Jeder noch so kleine Schritt in diese Richtung hilft, egal ob im eigenen Leben, im persönlichen Umfeld oder in einem größeren Kontext. Nicht irgendein spezielles Projekt, sondern alles, was vom Ideal des selbstverwirklichten Menschen beseelt ist, der seine persönliche Schöpferkraft zu friedlichen Zwecken nutzt. Je mehr sich jeder Einzelne eigenverantwortlich ins Leben stürzt, desto besser kommen wir voran.

Was es im größeren Kontext konkret zu lösen gilt, ist das Eigentumsdilemma. Es hat mit zwei Tatsachen zu tun, die beide für sich genommen wahr sind, aber im Konflikt miteinander stehen. Zum einen ist die Garantie der Selbstbestimmung über Körper und Eigentum ein zivilisatorischer Fortschritt. Es ist die Überwindung der Aufteilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte. Eine libertäre Privatrechtsordnung macht aus Menschen gleichberechtigte und souveräne Partner. Leider gründet sich die aktuelle globale Eigentumsverteilung jedoch auf die hochgradig unmoralischen und kriminellen Machenschaften der Korporatokratie. Wenn man also von jetzt auf gleich alles über Selbsteigentum regeln würde, hätten die Kriegsgewinnler der Korporatokratie – Banken, Rüstungsunternehmen, Technologieunternehmen usw. – einen riesigen Startvorteil.

Obwohl es grundsätzlich erstrebenswert ist, Eigentumsrechte konsequent zu schützen, wäre es eine Zumutung, die aktuellen Eigentumsverhältnisse zur Grundlage einer Privatrechtsordnung zu machen. Die Akzeptanz und Nachhaltigkeit einer Privatrechtsordnung hängt wesentlich von der Rechtmäßigkeit der Eigentumsverteilung ab. Um also die Vorzüge einer Privatrechtsgesellschaft genießen zu können, muss gleichzeitig mit der Entstaatlichung der Gesellschaft eine gerichtliche Aufarbeitung der wirtschaftlichen und politischen Geschichte erfolgen, um Strafen und Entschädigungsleistungen zu bestimmen. Es muss perspektivisch Kriegsverbrecherprozesse geben.

Das ist eine riesige Herausforderung und ich weiß nicht, ob wir sie bewältigen werden. Wenn wir uns jedoch wirklich in Richtung einer friedlichen und fairen Gesellschaft weiterentwickeln wollen, führt – so wie ich das heute sehe – kein Weg daran vorbei, also muss man es aussprechen. Wie genau wir mit all dem vorankommen, kann niemand im Vorhinein wissen oder festlegen. Mit jedem Schritt, den wir auf die Freiheit zugehen, ändern wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, somit müssen wir ständig neu improvisieren. Je mehr von uns Verantwortung übernehmen und sich an diesem Prozess beteiligen, desto besser.

DW: Wenn man sich die Weltsituation so ansieht, hat man eher das Gefühl, dass alles genau in die Gegenrichtung läuft, hin zu noch mehr Verstaatlichung und weniger Eigenverantwortung. Das zeigt doch eigentlich, wie es um die Masse bestellt ist. Hast du noch Hoffnung für die Welt – oder landen wir im viel beschworenen sozialistischen Weltstaat?

CS: Ich glaube, wir stellen gerade die Weichen in eine freie Gesellschaft oder in eine technokratische Dystopie. In dieser Phase des Übergangs kommen beide Archetypen deutlicher zum Vorschein. Wir sehen eine unverhohlene Machtergreifung der Korporatokratie und gleichzeitig eine beispiellose Gegenkultur auf den Straßen, in den Medien und in den Köpfen. Ich war schon 2011 bei Occupy und muss einfach mal feststellen, dass wir heute in der Aktivistenszene sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich besser aufgestellt sind, das macht Hoffnung.

Entscheidend ist, dass wir friedlich bleiben, dann haben wir eine Chance. Aktuell sehe ich bei vielen aus Verzweiflung die Emotionen hochkochen, zuletzt gab es auf Demos immer häufiger gewalttätige Zwischenfälle. Das spielt dem System in die Hände. Je unzivilisierter wir an der Basis sind, desto mehr provoziert man autoritäre Reaktionen des Staates. Mit Gewalt können wir weder die Korporatokratie besiegen noch Andersdenkende überzeugen. Deeskalation ist also das Gebot der Stunde.

Wir müssen lernen, schwierige Gespräche respektvoll und empathisch zu führen. Dazu gehört auch, den guten Willen anzuerkennen, den fast alle Menschen haben. Kommunikationsfähigkeit ist sogar noch wichtiger, als Fakten über PCR-Tests, Kriegslügen oder Fiatgeld runterbeten zu können. Außerdem müssen wir unsere Kreativität kultivieren in jederlei Hinsicht, unsere Schöpferkraft. Was kann jeder in seinem eigenen Leben tun, um mehr von dem zu manifestieren, das er in der Welt sehen will? Erfreulicherweise sehe ich immer mehr Menschen, die ihren Fokus genau auf diese Punkte richten.

DW: Wenn man sich näher mit dem libertären Gedankengut auseinandersetzen will: Welche Informationsseiten würdest du empfehlen? Und welches sind für dich die interessantesten Verfechter der Idee?

CS: Ganz vorne sind für mich FEE.org, AIER.org und Mises.org, aber auch der „Corbett Report“, der vielen in der Wahrheitsbewegung bekannt sein dürfte. Im englischsprachigen Bereich ist die libertäre Idee weitaus populärer als in Deutschland, deshalb gibt es dort auch mehr interessantes Material. Hierzulande machen Stefan Blankertz, eigentümlich frei, das Ludwig von Mises Institut oder auch Gunnar Kaiser einen guten Job, um die libertäre Philosophie zu verbreiten.

Mein libertäres Idol ist Jesus Christus. Das klingt vielleicht komisch, denn ich bin eigentlich nicht religiös, aber er verkörpert für mich das Nichtaggressionsprinzip, individuelle Schöpferkraft und freiwillige Nächstenliebe. Oft hört man heute, Jesus war Sozialist, aber Sozialismus impliziert in der Regel auch Staat. So wie ich seine Botschaft verstehe, geht es um göttlich inspirierte Selbstverantwortung.


Kommentare

Kommentar von Karla (15. Februar 2021, 08:35 Uhr)

Wer von den prominenten Verfechtern der Dezentralisierung (des Libertarismus) hat konkret selbst in seinem Umfeld schon dezentrale Strukturen umgesetzt? Selbst in diesem System gibt es eine Reihe von Menschen, die sich schon seit Jahren/Jahrzehnten organisieren (etwa in selbstversorgenden Lebensgemeinschaften) statt andere mit Konzepten "wie es denn sein sollte" zu besamen. Ohne konkretes Handeln vor Ort bleiben Konzepte nur Konzepte. Inzwischen entscheiden ganze Apparate darüber, wo wer was anbauen darf, Leute, die vermutlich selbst noch nie einen Baum gepflanzt haben. Wenn wir mehr Rosenbeete wollen, müssen mehr Menschen Rosenbeete anlegen - sinnbildlich gesprochen. Die Anthroposophen z.B. sorgen seit Jahrzehnten dafür, dass wir überhaupt gesunde Lebensmittel haben. Die Industrialisierung hat ja erst wesentlich zur Entwurzelung und Entfremdung von natürlichen Rhythmen beigetragen. Wer dezentrale Strukturen möchte, was wichtig ist, kann sich dort engagieren, wo bereits Menschen für dezentrale Strukturen sorgen. Dann kann das "alte System" schrittweise obsolet werden. Das ist weniger ein intellektueller Vorgang, sondern einer, der durch konkretes Handeln vor Ort "in die Materie" gebracht wird. Die Regierung spiegelt womöglich auch nur als "Konglomerat" das Massenbewusstsein wider. Zu beklagen, was man nicht mehr will, ist immer einfacher, als selbst neue Ideen umzusetzen. Schreibtischtäter verändern weniger als jene, die ein Stück Land liebevoll bearbeiten.