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Der Große Rote Sohn

rotVor hundert Jahren hätten Sie einen Menschen heiraten müssen, um sein Gesicht beim Orgasmus zu sehen – ein intimer Moment voller Verletzlichkeit. Heute müssen Sie drei Minuten Internetzeit investieren, und sie bekommen zum Orgasmusgesicht jede erdenkliche Beilage serviert, die je einem lustschwangeren Hypothalamus entflutscht ist. Zwischen diesen beiden Ären schreibt der US-amerikanische Autor David Foster Wallace den Urtext des vorliegenden Buchs: Auf dem Peak der Offline-Pornofilme, kurz vor der Verschmelzung von Silikonbrüsten und Silicon Valley.


Um das Phänomen Pornografie besser zu verstehen, reist Wallace 1998 im Auftrag der Zeitschrift Premiere zur Verleihung der Adult Video News Awards (AVNA), so etwas wie die Oscars der Porno-Industrie. In einem mietbaren Vergnügungstempel in Las Vegas und den umliegenden Hotelzimmern der Regisseure und Darsteller sammelt Wallace absurd-komische O-Töne, schlüpfrige Charmebolzen und trockene Erkenntnisse, die er auf rund hundert Seiten zu einer Satindecke verwebt – mit verdächtigen Flecken, wen wundert’s.

Menschen lieben und hassen Pornos aus verschiedenen Gründen. Die meisten Pornogegner hegen laut Wallace nicht etwa moralische, religiöse oder politische Bedenken – sie finden Pornos schlicht langweilig: zu robotisch, zu mechanisch, zu industriell. Allerdings spielt die US-Pornoindustrie weit mehr Geld ein als Hollywood, weswegen man die Branche auch den Großen Roten Sohn der Traumfabrik nennt. Es schauen also genügend Menschen zu. Wallace befragt einige Szenegrößen, was Pornos so populär macht: „In Wirklichkeit werden wir da alle wieder Kinder. Wir wälzen uns herum und werden dreckig. Das ist ein Sandkasten für Erwachsene“, verrät Regisseur F. J. Lincoln. Für den Darsteller Joey Silvera ist die Sache ganz einfach: „Alter, mal ehrlich. Amerika will wichsen.“ Der Branchenjournalist Harold Hecuba knurrt, den Hass und die Mysogonie des Durchschnittsamerikaners könne man gar nicht überschätzen, und Pornostarlet Jacklyn Lick gibt zu bedenken: „Ich glaube, viele Fans sind sehr einsame Menschen.“ Derselbe Hecuba berichtet wiederum von einem gar nicht einsamen Ehemann, der Pornos wegen der raren Momente genoss, in denen hinter den stilisierten Rollen der Darsteller plötzlich echte Gefühle und ungeheuchelte Lust hervorbrachen.

Auf der Branchenmesse am Vortag der Preisverleihung beobachtet Wallace das Miteinander von Fans und Profis. Dabei erkennt er eine „seltsam umgekehrte Gleichung – es sind die Konsumenten, die sich schämen oder schüchtern wirken, während die Darsteller forsch, ausgeglichen und hundertprozentig professionell sind“. Echte Gefühle, starke Frauen – müssen wir unsere Klischees über das Pornouniversum ablegen?

Teilweise sicher. An anderen Stellen überhaupt nicht: Staunend schüttelt Wallace den Kopf über die Plumpheit der Szene – Größen- und Schönheitswahn, Drogen, schmierige Sprüche und Pseudonyme wie Dick Filth oder Stroker Palmer lauern hinter jeder Klotür. Ein anderes, allzu wahres Klischee betrifft den Trend zu Gewalt, Demütigung und rohem Tabubruch, der laut dem Autor letztlich jener Entwicklung entspreche, die auch in Hollywood zu spüren sei.

Wallace ist eine kurzweilige, spannende und humorvolle Reportage gelungen, deren lockerer Ton nicht über die düsteren Seiten des Geschäfts hinwegtäuscht. Der Autor beschreibt seine nüchternen Beobachtungen aus einer Distanz, die gerade genug Nähe zum Geschehen gewährt, dass die Mischung aus Latex und billigem Parfum die Nase erreicht, um vom nächsten Lacher wieder herausgeprustet zu werden. „Der Große Rote Sohn“ birgt ein pointiertes wie eigenwilliges Psychogramm der Spätneunziger-US-Pornoszene, ihrer Wirte und Symbionten, bestens geeignet für Zugfahrten, Wintertage und Wartezimmer.

David Foster Wallace
Kiepenheuer & Witsch
105 Seiten
ISBN: 978-3-462048-21-6
€ 7,99